11. September 2013:
Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Mit dem 11. September, mit diesem nichtssagenden Monatstag im Spätsommer, verbindet sich also dieses Geschehen, das wie ein Fanal eine neue Zeitrechnung markiert und zu dem mir manchmal der Turmbau zu Babel einfällt – ich verbinde damit aber auch Rainer Maria Rilke, er überschrieb das erste Kapitel seines Buches „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ mit „11. September, Rue Tollier.“ Der „Malte“, wie Rilke-Kenner dieses Buch nennen, ist kein Roman – Rilke hat es auch nie Roman, sondern Prosabuch genannt – für mich ist es vor allem ein Arrangement von lyrischen Texten, von Prosa-Gedichten, mal zusammenhängend, mal nicht. Man kann Rilke durchaus kritisch begegnen, er war wohl ein sehr empfindsamer Mensch, manche meinen, er sei ein Synästhetiker gewesen, was ich für nicht unwahrscheinlich halte, weil eine besondere Wahrnehmung seinem lyrischen Genius zugearbeitet haben könnte – auf der anderen Seite pflegte Rilke ein mystisch-faschistoides Weltbild mit unübersehbar elitären Tendenzen, er bewunderte Nietzsche und den frühen Mussolini, dazu passte seine Präferenz für den Adel und die Haute volee. Nicht vorwerfen kann man dem großen Dichter allerdings, dass nicht nur mir sein „Panther“ so langsam auf den Wecker geht, obwohl es sich fraglos um ein großartiges Gedicht handelt – es ist mit Sicherheit das am häufigsten zitierte Gedicht in deutscher Sprache. Wer die Worte „Der Panther“ bei Google eingibt, der erhält 2,6 Millionen Ergebnisse, und es geht nicht mit dem vierbeinigen Panther in der Wildnis los, sondern mit Rilkes Panther, der zwar auch auf vier Beinen daherschreitet, doch das hinter den berühmten Gitterstäben… wie auch immer, der „Malte“ zieht mich bis heute in seinen Bann – ich habe zwei Ausschnitte ausgewählt:
11. September, Rue Tollier.
So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d’Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden – man kann das.
…
Ich fürchte mich. Gegen die Furcht muß man etwas tun, wenn man sie einmal hat. Es wäre sehr häßlich, hier krank zu werden, und fiele es jemandem ein, mich ins Hôtel-Dieu zu schaffen, so würde ich dort gewiß sterben. Dieses Hôtel ist ein angenehmes Hôtel, ungeheuer besucht. Man kann kaum die Fassade der Kathedrale von Paris betrachten, ohne Gefahr, von einem der vielen Wagen, die so schnell wie möglich über den freien Plan dort hinein müssen, überfahren zu werden. Das sind kleine Omnibusse, die fortwährend läuten, und selbst der Herzog von Sagan müßte sein Gespann halten lassen, wenn so ein kleiner Sterbender es sich in den Kopf gesetzt hat, geradenwegs in Gottes Hôtel zu wollen. Sterbende sind starrköpfig, und ganz Paris stockt, wenn Madame Legrand, Brocanteuse aus der Rue des Martyrs, nach einem gewissen Platz der Cité gefahren kommt. Es ist zu bemerken, daß diese verteufelten kleinen Wagen ungemein anregende Milchglasfenster haben, hinter denen man sich die herrlichsten Agonien vorstellen kann; dafür genügt die Phantasie einer Concierge. Hat man noch mehr Einbildungskraft und schlägt sie nach anderen Richtungen hin, so sind die Vermutungen geradezu unbegrenzt. Aber ich habe auch offene Droschken ankommen sehen, Zeitdroschken mit aufgeklapptem Verdeck, die nach der üblichen Taxe fuhren: Zwei Francs für die Sterbestunde.
Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu König Clodwigs Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten gestorben: Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer gibt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich doch leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben. Gott, das ist alles da. Man kommt, man findet ein Leben, fertig, man hat es nur anzuziehen. Man will gehen oder man ist dazu gezwungen: nun, keine Anstrengung: Voilà votre mort, monsieur. Man stirbt, wie es gerade kommt; man stirbt den Tod, der zu der Krankheit gehört, die man hat (denn seit man alle Krankheiten kennt, weiß man auch, daß die verschiedenen letalen Abschlüsse zu den Krankheiten gehören und nicht zu den Menschen; und der Kranke hat sozusagen nichts zu tun).
In den Sanatorien, wo ja so gern und mit soviel Dankbarkeit gegen Ärzte und Schwestern gestorben wird, stirbt man einen von den an der Anstalt angestellten Toden; das wird gerne gesehen. Wenn man aber zu Hause stirbt, ist es natürlich, jenen höflichen Tod der guten Kreise zu wählen, mit dem gleichsam das Begräbnis erster Klasse schon anfängt und die ganze Folge seiner wunderschönen Gebräuche. Da stehen dann die Armen vor so einem Haus und sehen sich satt. Ihr Tod ist natürlich banal, ohne alle Umstände. Sie sind froh, wenn sie einen finden, der ungefähr paßt. Zu weit darf er sein: man wächst immer noch ein bißchen. Nur wenn er nicht zugeht über der Brust oder würgt, dann hat es seine Not.
Wenn ich nach Hause denke, wo nun niemand mehr ist, dann glaube ich, das muß früher anders gewesen sein. Früher wußte man (oder vielleicht man ahnte es), daß man den Tod in sich hatte wie die Frucht den Kern. Die Kinder hatten einen kleinen in sich und die Erwachsenen einen großen. Die Frauen hatten ihn im Schoß und die Männer in der Brust. Den hatte man, und das gab einem eine eigentümliche Würde und einen stillen Stolz.
von Rainer Maria Rilke (1875-1926)
Ob es bei ihm wirklich eine Präferenz für den Adel gab oder nur die Option, sich eine zeitlang zum Beispiel bei italienischen Adelsdamen finanziell über Wasser zu halten, sei dahingestellt.
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Eine bemerkenswerte Retrospektive.
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