Uncle Sam philosophisch

7. Juni 2014 – Uncle Sam philosophisch

Welche Philosophie bestimmt die Gegenwart? Existiert eine solche Philosophie überhaupt? Der Kapitalismus kann es nicht sein, denn er ist keine Philosophie, der Kapitalismus ist ein komplexer ökonomischer Mechanismus, der weitgehende strukturierende Eigenschaften hat, die bis heute für die meisten Menschen unverstanden und unerklärt bleiben. Gibt es also ein System darüber hinaus – ein System des Denkens, der Werte, des Handelns – nach dem sich die Gesellschaften westlicher Prägung ausrichten? Ja, allerdings muss man dafür die Grenzen zwischen Philosophie und Weltanschauung ziemlich großzügig fließen lassen, man darf wissenschaftlich nicht zu akribisch an die Grundsätze herangehen.

Alisa Zinov’yevna Rosenbaum war wahrscheinlich bedeutsamer für den Zustand der Gegenwart als Friedrich Hegel, Karl Marx oder Jean-Paul Sartre – Alisa wurde 1905 in St. Petersburg geboren, in eine wohlhabende jüdische Familie hinein, 20 Jahre später ging sie nach Amerika, das sie sofort nachhaltig faszinierte und wo sie für immer blieb, bis zu ihrem Tod, sie starb 1982 in New York. Alisa Rosenbaum gehörte zu den ersten Frauen, die nach der Oktoberrevolution 1917 in Russland studieren durften, ihre Fächer waren eine frühe Art von Sozialpädagogik, dazu Geschichte, doch vor allem Philosophie, sie vergötterte Aristoteles.

In Amerika legte sie sich einen anderen Namen zu, sie hieß dort fortan Ayn Rand, wurde eine bekannte Schriftstellerin und konzipierte ein paraphilosophisches Denkgebäude, den „Objectivism“ – ich behalte hier bewusst die englische Bezeichnung bei, weil der Begriff „Objektivismus“ in der europäischen Philosophie bereits besetzt war, durch den in der Erkenntnistheorie schon lange zuvor formulierten Grundgegensatz zwischen Konstruktivismus und Objektivismus. Die eher trockene epistemologische Darstellung geriet durch Ayn Rand in den Hintergrund, sie besetzte den Objektivismus neu und machte ihn so zu einem Codewort für eine spezifisch amerikanisch-konservative Weltanschauung, die bis heute einen großen Stellenwert für die Selbsteinordnung der Menschen in den Vereinigten Staaten hat. Ayn Rand war die Theoretikerin des ebenso rigorosen wie schillernden Freiheitsbewusstseins, das die USA bis heute prägt.

Zu den glühendsten Verehrern von Ayn Rand gehört der kanadisch-amerikanische Philosoph Leonard Peikoff (geb. 1933), er gründete das Ayn-Rand-Institute, in einer künstlichen Stadt 60 Kilometer von Los Angeles entfernt – die Stadt heißt Irvine, sie wurde zwischen 1960 und 1970 von einem gleichnamigen Immobilienkonzern erbaut, weil sich Los Angeles weiter ausdehnte, Irvine ist für seine Unversität sowie für führende Technologie-Unternehmen bekannt und gilt als sicherste Stadt der USA. Leonard Peikoff schrieb auch ein Buch mit dem Titel „Objectivism: The Philosophy of Ayn Rand“, er hält regelmäßig Vorträge bei Versammlungen der Tea-Party, und er geht dabei eindeutig zur Sache.

Bereits 1993, also vor über 20 Jahren, referierte Leonard Peikoff in einem kalifornischen Hotel für die „Americans for Free Choice in Medicine“ (AFCM), eine Organisation, die sich vehement gegen die amerikanische Gesundheitsreform einsetzt, er überschrieb sein Referat damals mit „Health Care Is Not a Right“, was ungefähr bedeutet: „Gesundheitsfürsorge ist kein Menschenrecht“ – hier ein Auszug, Zitat:

„Now our only rights, the American viewpoint continues, are the rights to life, liberty, property, and the pursuit of happiness. That’s all. According to the Founding Fathers, we are not born with a right to a trip to Disneyland, or a meal at Mcdonald’s, or a kidney dialysis (nor with the 18th-century equivalent of these things). We have certain specific rights—and only these.“

Übersetzung:
„Nun geht die amerikanische Sicht weiter davon aus, dass unsere einzigen Rechte diese sind: das Recht auf Leben, auf Freiheit, auf Besitz und das Recht auf die Suche nach dem persönlichen Glück. Das ist alles. Unsere Gründerväter waren nicht der Ansicht, dass der Mensch mit dem Grundrecht geboren wurde, einen Ausflug nach Disneyland zu machen, bei McDonalds einen Imbiss umsonst zu bekommen oder eine Nieren-Dialyse (beziehungsweise entsprechende medizinische Anwendungen im 18. Jahrhundert). Wir haben eine Anzahl spezifischer Rechte – und nur diese.“

Das ist eine klare Absage an den Sozialstaat, mehr noch, es drückt sich darin eine tiefe Verachtung des Solidarprinzips aus – hier wird unmissverständlich klar, welch eine Kluft zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Weltverständnis liegt. Man darf diese Diskrepanz nicht um des Business-as-usual willen immer wieder als nachrangig abtun, es kommt eine Unvereinbarkeit zum Vorschein, die sich auch in der Politik deutlich manifestieren muss. Man kann nicht inkompatible moralische Grundsätze andauernd mit Ignoranz und Ausflüchten passend zu machen versuchen, besonders dann nicht, wenn man weiß, dass die Vereinigten Staaten ihre verkümmerte Weltsicht auf die ganze Erde übertragen wollen.

Ein weiterer Auszug aus dem Referat, Zitat:
„…there would be no liberty in the country: if your mere desire for something, anything, imposes a duty on other people to satisfy you, then they have no choice in their lives, no say in what they do, they have no liberty, they cannot pursue their happiness. Your „right“ to happiness at their expense means that they become rightless serfs, i.e., your slaves.“

Übersetzung:
„…dann gäbe es keine Freiheit in unserem Land: wenn das bloße Verlangen nach etwas, nach irgendetwas, anderen Menschen die Pflicht auferlegt, das Verlangen zu befriedigen, in diesem Fall haben die Menschen keine Wahl mehr in ihrem Leben, sie haben nicht mehr das Sagen über das, was sie tun, sie haben ihre Freiheit verloren, sie können nicht ihrem eigenen Streben nach Glück und Erfolg nachkommen. Ein Recht auf Glück zu Lasten anderer bedeutet, dass die Menschen zu rechtlosen Dienern werden, das heißt zu Sklaven.“

In solchen, eigentlich erschreckend naiven Bekenntnissen klingt purer Liberaldespotismus durch, die Tonlage hat etwas Anarchisches, da sitzt schon der Revolver locker – da wird das vermeintliche Recht des Stärkeren plump als Philosophie verkauft.

Und noch ein abschließender Satz aus diesem Vortrag von Hochschulprofessor Leonard Peikoff, Zitat:
„That is why the U.S. system defines rights as it does, strictly as the rights to action.“

Übersetzung:
„Deshalb definiert das US-System in der Praxis die Rechte strikt als Rechte, selbst zu handeln.“

Wer nicht selbst handeln kann, wer in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, wem keine Bildung zuteil wird, wer der falschen Rasse angehört, wer aus der falschen Ecke der Erde stammt, wer mit problematischen körperlichen, intellektuellen oder charakterlichen Voraussetzungen leben muss, wer nur friedlich und maßvoll vor sich hin leben will, wer sich nicht mit Gewalt durchsetzen möchte und es auch nicht kann – der hat Pech gehabt – der wird zum Verlierer, um den sich niemand mehr schert, der stellt, übertrieben formuliert, den Abschaum dieses brachialen Menschenbildes dar. So aber haben wir nicht gewettet, solch ein Gestammel kann kein Entwurf für die Gesellschaft der Zukunft sein.

Die Philosophie des „Objectivism“ von Ayn Rand wirkt in ihrer Gesamtheit disparat. Einerseits verurteilte sie sogar den Liberalismus und die Anarchie sowieso als kollektivistische Verirrung, andererseits bezeichnete sie ihr Denken als radikal kapitalistisch, sie überhöhte den schlichten Egoismus als zentrales Existenzkonzept – einerseits sprach sie sich gegen Gewalt und Irrationalismus aus, andererseits fühlte sie sich als Romantikerin und sah den wahren Sinn des Lebens im Kampf des einzelnen für seine Bedürfnisse – einerseits wollte sie einen streng reglementierten Staat, anderseits wollte sie einen Staat, der die individuellen Freiheitsrechte fast unerbittlich hart durchsetzt – das was Ayn Rand zum neuen Objektivismus erkor, ist im Grunde nichts anderes als ein küchenphilosophisches Durcheinander, das mit einem hohen Anspruch hausieren geht, eine Vermischung von Maßstäben und Wertvorstellungen nach gusto, ein krankhaft auf das Eigeninteresse reduziertes Menschenbild, das die Welt nicht weiter bringt. Unter diesen Umständen erscheint es nicht verwunderlich, dass der Rand’sche Objektivismus bei der amerikanischen Tea-Party Begeisterungsstürme auslöst. Das alles erinnert mich fatal an andere amerikanische Auswüchse von Junk Sciene, wie Kreationismus und Intelligent Design oder auch an den in Amerika allgegenwärtigen pseudoreligiösen Eskapismus für eine Handvoll Dollar.

Zu einem Bestseller wurde Ayn Rands zentrales Werk, ein dicker Roman mit Science-Fiction-Elementen, nämlich das Buch „Atlas Shrugged“ (wörtlich übersetzt: „Atlas zuckte mit den Schultern“) – deutsche Titel: „Atlas wirft die Welt ab“ oder „Wer ist John Galt?“, Neuauflage des Buches im Jahr 2012 unter dem Titel: „Der Streik“. „Atlas Shrugged“ soll eines der bedeutendsten literarischen Werke Amerikas sein, na ja, wenn das so ist… ich habe es trotzdem noch nicht gelesen, es geht darin offenbar um supertüchtige Unternehmer, um hemdsärmelige Anpacker, um Durchsetzungskraft, eben um die Übermenschen à la Ayn Rand, die das Leben entscheidend gestalten und gestalten sollten – es handelt sich den Kritiken zufolge um die prosaische Ausgestaltung ihres Objektivismus. Das Buch wurde bereits drei Mal verfilmt, die ersten beiden Fassungen waren Billig-Produktionen mit mäßigem Erfolg und mit schlechten Kritiken, aber die neueste Fassung kommt im Dezember 2014 in die amerikanischen Kinos, was nicht ausschließt, dass dieses Monumentalwerk demnächst auch Europa heimsucht.

von Deeplooker, 21. Mai 2014

5 Gedanken zu “Uncle Sam philosophisch”

  1. Baumeister sagte:

    „The pursuit of happiness“ ist im Prolog der US-Verfassung als Lebensziel festgezurrt.
    Im Verständnis der Amis folgt aus „Jeder ist seines Glückes Schmied“ im Umkehrschluss, dass man sich aus moralischen Gründen keineswegs um das Unglück anderer kümmern muss, weshalb sich ein „Sozialstaat“ dort auch nicht als gesellschaftliches Ziel etablieren kann.

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  2. alterEgo sagte:

    Im amerikanischen Selbstverständnis waren noch niemals Elemente eines Wohlfahrtstaates vorgesehen. Wird sich auch nicht nachhaltig ändern.

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