…vom selektiven Entsetzen der Heuchler
– aufgeschrieben im Dezember 2008
In Baden-Württemberg ist die Harmonie des deutschen Seins unerschütterlich. Dort regiert der Nazi-Relativierer Günther Oettinger, und dort ruht Hans Filbinger in Frieden. Er hat seine Pflicht erfüllt, auch im ländle-typischen Sinne von Geschichtsvergewaltigung und Verbohrtheit bis zuletzt. Viele Baden-Württemberger taten damals nur ihre Pflicht: Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich, Josef Goebbels und so weiter – möglicherweise zu exzessiv, raunt man sich im Ländle zu. Deshalb wurde diesen Nazi-Massenmördern kein Grab zuteil, wie auch nicht Adolf Hitler, dessen Pflichterfüllung mit der lakonischen Aussage abschloss, das deutsche Volk habe ihn verraten.
Als Brigitte Mohnhaupt entlassen wurde, stand in einer Zeitung, dass sie mit gesenktem Kopf aus der Haftanstalt geschlichen sei, aus einer baden-württembergischen Haftanstalt, in dem Bundesland, wo sie auch verurteilt wurde. Vielleicht ging Brigitte Mohnhaupt langsam und schaute dabei ein paar Mal nach unten. Aber das hätte sie nicht tun sollen, sie hätte wissen sollen, dass sie den Eindruck einer von ihren Untaten geschlagenen Hündin hinterließ – ein Bild, das eine Rechtschaffenheit von Delinquenz ohne Grenzen bereitwillig kolportierte.
Christian Klar entstammt einer gutbürgerlichen baden-württembergischen Familie, und er sitzt in einem baden-württembergischen Zuchthaus. Nun kommt der in der Öffentlichkeit fast als Monster dämonisierte Terrorist frei. Er hat kaltblütig neun Morde begangen oder sie geplant. Dafür wurde er zu fünf Mal Lebenslänglich plus weiterer Haft verurteilt. Und deshalb verbrachte er nahezu die doppelte Zeit im Gefängnis, mit der ein ‘normaler’ Mörder als Strafe rechnen muss.
Wie die anderen RAF-Täter mordete Christian Klar nicht aus Habgier oder aus gängigen niedrigen Beweggründen. Er hatte keine persönliche Beziehung zu den Opfern. Damit lässt sich gar nichts entschuldigen und gar nichts rechtfertigen – diese Feststellungen sind schlicht zu treffen, unabhängig von dem Ausmaß der persönlichen Schuld. Die Opfer waren aus Sicht der Täter Repräsentanten des kapitalistischen Systems, ihre Begleiter und Unbeteiligte, die sich zufällig am Ort des Geschehens befanden. Inzwischen herrscht bei Historikern die Meinung vor, die RAF habe damals schon nicht mehr politisch zielgerichtet Morde begangen, sondern habe aus einem Zustand psychisch-moralischer Verirrung heraus gehandelt. Wenn das so war, dann hätte man es berücksichtigen müssen – auch der Bundespräsident hätte es sich vor Augen führen können, bevor er Klar und Birgit Hogefeld seine Gnade verweigerte.
Horst Köhlers Ablehnung war leider nicht souverän, sondern es war die Entscheidung eines Abgesandten des konservativen Lagers, damit beauftragt, bei den RAF-Terroristen nach 24 Jahren Haft eine Gesinnungsprüfung vorzunehmen, die wie moderne Inquisition anmutete. Der Bundespräsident wusste um die Ungeheuerlichkeit des Vorgangs, ebenso dass Christian Klar unter anderem wegen seiner anhaltenden Kapitalismuskritik inhaftiert blieb – während überführte Nazi-Mörder in Baden-Württemberg zu Ehren kamen. Horst Köhler begründete seine Entscheidung nicht, weil er es nicht konnte.
Um den Fall Christian Klar wabert ein Anspruch der Gesellschaft auf Reumütigkeit des Täters, wie er bei Gewaltverbrechen vorher noch nicht erhoben wurde. Meistens begnügt sich die Justiz bei der Freilassung eines Häftlings mit dem Nachweis guter Führung, mit einer Distanz, die der Täter nach vielen Jahren im Gefängnis automatisch eingenommen hat, und damit, dass er in Zukunft keine Gefahr mehr darstellt. Explizite Reue wird nicht verlangt. Dieses Ansinnen wäre unrealistisch, denn es würde die Täter und die Behörden überfordern. Entscheidend bleibt: Der Staat muss per Gesetz kriminelles Fehlverhalten ahnden, aber er darf sich niemals das Recht auf Gehirnwäsche herausnehmen.
Jürgen Vietor, heute 66-jähriger Co-Pilot der nach Mogadischu entführten ‘Landshut’, gibt mit einer unsäglich moralisierenden Geste sein Bundesverdienstkreuz zurück. Er geht mit seiner Empörung über die Freilassung von Christian Klar hausieren und sonnt sich in bewundernden Kommentaren. Man hätte Klar per Sicherheitsverwahrung bis zu seinem Tod im Zuchthaus schmoren lassen müssen, deklamiert der selbsternannte Richter – und vergreift sich unwidersprochen an den Errungenschaften des humanen Strafrechts, das als Befreiung von der nationalsozialistischen Terror-Justiz zustande kam.
Christian Klar bleibt ein bekennender Staatsfeind. Seine Unbeugsamkeit können viele ebenso wenig ertragen wie seine fehlende Reue. Er hat für seine schlimmen Taten schwer gebüßt, doch er hat keine Buße getan. Das ist seine persönliche Angelegenheit und nicht justitiabel.