Lebst du noch, oder fliehst du schon? Besser nicht vorschnell antworten – Sie könnten nämlich falsch liegen. Ich werde Sie erst einmal diagnostizieren und später auf die Frage zurückkommen: Sie lesen diesen Text in diesem Blog, das allein ist schon verdächtig genug, weil hier durchgehend Zweifel genährt werden. Sie sind sich nicht sicher, das steht also schon fest, Sie sind sich Ihrer selbst nicht sicher, Sie zweifeln daran, dass die Verhältnisse, in denen Sie leben, zufriedenstellend sind. Deshalb denken Sie lieber nicht weiter über die Verhältnisse nach und beschäftigen sich stattdessen mit dem Naheliegenden, verständlich. Sie wenden ihren Blick von der Zukunft ab, weil sie ihn nicht allzu lange ertragen können, das ist nachvollziehbar – doch damit sind Sie eindeutig überführt: ein Fluchttier, vielleicht in Jeans, vielleicht in einem dezenten Kostüm oder in einem wallenden Rock, vielleicht mit Schlips und Kragen, vielleicht mit einem Tattoo oder mit ungekämmten Haaren.
Schillernde Exemplare wie Sie, glauben Sie mir, gibt es massenhaft, sie fallen nicht weiter auf, weil sie den Zeitgeist repräsentieren. Der Zeitgeist heißt Flucht, der Zeitgeist dieser Epoche ist Flucht in ihren Variationen, die meisten davon entweder plump oder geschickt verklausuliert, zumeist pseudo-moralisch, dazwischen gibt es nicht viel. Die schlimmsten Flüchter sind die notorischen Abwinker: Bevor die sich nach dem Aufstehen die Zähne putzen, haben sie schon drei Mal abgewinkt, ein Mal in Richtung auf den Partner und zwei Mal innerlich. Eine der plumpesten, aber beliebtesten Fluchtroutinen ist der Tagtraum, der sich typischerweise gleich morgens meldet, im Stau oder in der U-Bahn: die Südsee im Tunnel oder freie Fahrt im Ferrari bei Stop and Go. Später bei der Arbeit wird der Tagtraum gewöhnlich von Rachephantasien über Kollegen und Vorgesetzte abgelöst – wenn wieder Ruhe eintritt, drängen sich die Reichtumshalluzinationen auf, die Scheine-Welt, diese besonders illustre Scheinwelt, die Taschen voller Geld, da der 10-Euro-Schein, den man dem Pagen im 5-Sterne-Hotel wie nebenbei zusteckt, da das selbstverständliche Zücken der Kreditkarte beim Buchen des First-Class-Tickets, hier der Griff zum Hochglanz-Prospekt mit den Immobilien-Angeboten für die exklusive Klientel.
Neid? Nein, Unsinn – was fast alle haben wollen, das darf man auch haben wollen, ohne missgünstig zu sein. Neid bedeutet einfach, sich das herrliche Leben, welches einem leider nicht zuteil wird, konstruktiv auszumalen, Träume sind nicht nur gestattet, sondern rein wirtschaftlich gesehen überlebensnotwendig – Missgunst dagegen ist genau das was das Wort bedeutet: ein vergleichendes, ein gehässiges Nichtgönnen, und insofern eine destruktive Reaktion. Doch ob konstruktiv oder destruktiv, beides ist Flucht, Flucht in die eigene Korruption: Denn es geht wieder nur um Sie, um Ihren persönlichen Funzel-Kosmos, es geht um Sie, um das kleine Licht, das gegen die große Welt mit Vordergründigkeiten anscheinen will – mit einem luxuriösen Auto, mit einem Pool, mit Granit im Bad, mit einer zu schönen Frau, mit einem zu markanten Mann… so wird das nie etwas, so werden Sie nicht bedeutsamer, nicht besser, gewiss auch nicht eindrucksvoller anzusehen, nicht intelligenter, sie werden auch nicht bewundert, das glaubt man immer nur. Man wird Sie eiskalt belügen, man wird Sie sogar hassen, und letzten Endes haben Sie nichts erreicht außer einem schalen Gefühl der Verunsicherung gegenüber sich selbst. Wollen Sie das wirklich? Nein, natürlich nicht – ich merke schon, Sie fangen endlich an nachzudenken, wurde auch Zeit.
Zum Schluss noch eine Warnung, weil ich es gut mit Ihnen meine, denn ich möchte nicht, dass Sie als alberne Figur enden: Fliehen Sie niemals in verstiegene Attitüden, denn damit machen Sie sich vollends lächerlich. Wenn Sie sich weder für Kunst interessieren noch eine Ahnung davon haben, dann geht es Ihnen im Prinzip wie mir – ich verweigere die moderne Malerei strikt, ich bin zu dumm dafür – ich gehe auch nicht in die Oper, ich bin ein Prolet, mir geht das heftige Gesinge auf die Nerven – ich unterhalte mich nicht über Schönbergs Zwölfton-Musik, weil ich gar nicht weiß, was Schönberg damit so im Sinn hatte. Ein weitere Falle, in die Sie nicht tappen sollten: Suchen Sie, um sozial aufzusteigen, ja nicht krampfhaft den Umgang mit höhergestellten Persönlichkeiten wie Ärzten, Professoren, Provinzpolitikern oder Prominenten… weil der Versuch, in die vermeintlich besseren Kreise einzudringen, bei fehlenden Voraussetzungen für gewöhnlich in einem Desaster endet, für Sie und für ihr Selbstbewusstsein. Verlassen Sie sich auch nicht allein auf das Geld, sofern Sie zufällig einmal mehr als ausreichend davon haben sollten – selbst die Mitgliedschaft in einem teuren Golfclub kann sich schnell anfühlen wie der Ballermann auf Mallorca, und auch mit einem akzeptablen Handicap beim Golf können Sie das Handicap eingebildeter Minderwertigkeit nicht ausgleichen.
Am besten, Sie widerstehen allen Fluchtgelüsten und Fluchtreaktionen, am besten, Sie bleiben da wo Sie sind, und Sie bleiben wie Sie sind. Schauen Sie sich um: Es ist doch alles in Ordnung, soweit ist alles in Ordnung, noch, mehr ist eben nicht drin – außerdem befürchte ich, dass Sie sich sowieso nicht mehr ändern. Das Leben in dieser Zeit hält für die meisten von uns keine attraktiven Orte vor, alles ist hässlich, und selbst die Bequemlichkeit wirkt ermüdend, die Sicherheit wirkt bleiern, Glücksgefühle hergesucht, die Informationsflut sinnlos, zusammengenommen alles eher wie eine Betäubung. Und die Menschen sind auch hässlich, je schöner sie aussehen desto hässlicher pflegen sie zu sein. So kann es nicht besonders überraschen, dass man den Menschen lieber nicht mehr begegnen möchte – ich bevorzuge schon lange die Tiere.