Was ging im vergangenen Vierteljahrhundert politisch vor sich auf der Welt? Die Antworten kommen sofort: Zu Anfang, im Jahr 1990, erfolgte der Kollaps des Ostblocks und darauf die Fehlreaktion des Westens, der sich weigerte, aus diesem epochalen Ereignis einen Friedensgewinn zu ziehen. Inzwischen haben sich die damals gegebenen Möglichkeiten sogar in das Gegenteil verkehrt: Kriegstreiber und Kriegsgewinnler haben schon wieder die Oberhand gewonnen – die friedlichen Perspektiven nach 1989 waren ein kurzes, helles Aufleuchten am Horizont, das sich nach wenigen Jahren verflüchtigte. So das politische Fazit.
Das globale Fazit des letzten Vierteljahrhunderts lautet: Die Probleme haben sich weiter verschärft, ihre Ausmaße erreichen die Vorstufe zu einer existenziellen Gefährdung der Weltgemeinschaft. Zusammengefasst lautet das Fazit: Wir leben auf einer durch Überbeanspruchung und Kriege massiv bedrohten Erde. Der Handlungsdruck ist gewaltig. Doch nirgendwo wird der Wille zum Handeln erkennbar, und nicht einmal die wichtige Frage, warum das so ist, wird öffentlich vernehmbar gestellt. Merkwürdig genug – die gemeinsame Zukunft erscheint uninteressant, in der politischen Diskussion hat sie gar keinen Stellenwert, auch in den Medien wird sie nur sporadisch gestreift, eingezwängt zwischen Lifestyle und Werbung. Ist das Absicht? Ist das Verdrängung? Es ist beides.
An allem ist der Kapitalismus schuld… ja, ja… natürlich, wer auch sonst. Aber wenn es tatsächlich so sein sollte, wie geht es denn nun weiter? Das ist schwer zu beantworten, besonders wenn Teillösungen der Probleme in menschlich erfassbaren Zeiträumen angestrebt werden – gerade noch vorstellbar wäre vielleicht die Zeit um das Jahr 2150, also 135 Jahre weiter, das heißt, vier bis fünf Generationen. Eine auch zeitlich und zwar nach menschlichen Maßstäben klar strukturierte Zukunftsplanung fehlt, sie fehlt als unabdingbare Grundlage für zielgerichtete Krisenbewältigung. Wenn der Kapitalismus eine Hauptursache für die Fehlentwicklungen darstellt, dann muss man drei Dinge tun:
1. Ihn ins Auge fassen, ihn umgehend zum Gegenstand einer weltöffentlichen Diskussion machen.
2. Ihn systematisch untersuchen, denn bisher ist man nicht einmal bereit, den Kapitalismus als eigenständigen Wissenschaftsbereich anzuerkennen. Es geht nicht darum, den Marxismus einfach wieder zu beleben oder etwa die Kritische Theorie der Frankfurter Schule nachgebessert auf die Gegenwart anzuwenden – es muss durchgesetzt werden, dass die Kapitalismuswirtschaft als unabhängige Fakultät gleichrangig neben die Volks- und Betriebswirtschaft gestellt wird, wodurch sich dann auch für das interdisziplinäre Forschen eine erweitere Grundlage bietet. Viel Zeit bleibt nicht mehr, die etablierte Wissenschaft muss sich dem Phänomen des Kapitalismus öffnen.
3. Ihn möglichst umgehend verändern, was nur gezielt und in moderaten Einzelschritten möglich sein wird. Alle revolutionären Hauruck-Methoden würden unweigerlich ins Chaos führen – ein hochkomplexes System einfach zu zerschlagen, würde einen Trümmerhaufen erzeugen, der die Menschen noch aussichtsloser dastehen ließe als zuvor.
Der Begriff Kapitalismus ist überladen – er ist zugleich Schlagwort, Totschlag-Argument, Befund, Gespenst und Realität, in ihm drückt sich Ohnmacht aus, er steht für die Fatalität des Seins, bei vielen Menschen auch für die Verzweiflung über die Welt. Deshalb wird es umso wichtiger, den Kapitalismus zu versachlichen, ihn vorbehaltlos zu analysieren, bis zu dem Versuch, seine Auswirkungen auf das Leben zu objektivieren. Nur diese Vorgehensweise führt zum Ziel. Die Gesellschaft ist allerdings noch weit von solchen Überlegungen entfernt – sie hat den Kapitalismus als morbides Modewort in ihre Kultur aufgenommen, sie hegt und pflegt ihn sogar merkwürdig verbissen wie unvermeidliche Warzenbildungen auf dem Körper. Aber als reine Hässlichkeit lässt sich allzu leicht Frieden schließen mit einem Erzfeind des sozialen Zusammenlebens, und selbst die Proteste der Linken, egal in welcher Form, muten wie Rituale an, die so anrührend wirken, dass man sie schon vermisst, wenn sie nicht mehr vollzogen werden – was wäre ein Weltwirtschaftsgipfel ohne Proteste? Er wäre langweilig, allein deshalb weil es über solche Spitzentreffen nur selten etwas Nennenswertes zu berichten gibt.
Die Tücke des Kapitalismus liegt in seiner tabuisierten, in seiner fast sorgsam gehüteten Konturlosigkeit – ein verschwommenes Feinbild kann man nicht richtig ins Auge fassen. Die Wurzel des Übels wird an verschiedenen Stellen geortet: im Zinsgeld-System mit der Explosion der virtuellen Kapitals, im undemokratischen politischen System inklusive falsch strukturierter Eigentums-, Verteilungs- und Einkommensverhältnisse – allgemein in einem überbordenden Marktliberalismus bei tendenziell versagenden Märkten – im Machtzuwachs großer Unternehmen, also der Global Player, der Konzerne, die die politische Kontrolle weiter aushebeln, ohne ethische Grundorientierungen, ohne Verantwortung für den Lebensraum Erde – in einer Individualisierung der Existenz und gleichzeitig in einer durchökonomisierten Massenexistenz. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen, man könnte sie auch spezifizieren, ins Uferlose. Es wird erkennbar, wie amorph sich der Kapitalismus in seinem Gesamtbild darbietet, er ist kaum zu greifen, kaum zu begreifen. In der Gegenwart dominieren immer noch überkommene Vorstellungen von Analyse und Erkenntnis: Die Volkswirtschaft begründet sich auf der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, Wirtschaftszyklen werden nach unterschiedlichen Methoden untersucht – die Betriebswirtschaft begründet sich auf der betrieblichen Erfolgsrechnung… aber auf welcher Rechnung beruht die Kapitalismuswirtschaft? Im Grunde auf keiner. Der Kapitalismus schafft seine eigenen besonderen Gesetzmäßigkeiten, die über alles Berechenbare hinausgehen. Allein die Rendite und die algorithmischen Kunstgriffe zu ihrer Optimierung durch Großrechner könnten es ohnehin nicht sein – damit ließe man die problematischen Folgen dieser Wirtschaftsform vollkommen außer Betracht. Die Aushöhlung zu kalkulatorischen Routinen macht die Volks- und die Betriebswirtschaft zu Minderwissenschaften – mit diesem Befund gewinnt die Kapitalismuswirtschaft eine umso größere Existenzberechtigung als zwar lebensgestaltende, dabei jedoch in hohem Maße auch lebensverunstaltende Wissenschaftsdisziplin.
In diesem Text ist von Kapitalismuswirtschaft die Rede, nicht von Kapitalwirtschaft. Das hat seinen Grund, denn letztere würde zur Erklärung der modernen Weltdiktatur viel zu kurz greifen. Wenn man den Kapitalismus, so wie es oft getan wird, als eine Ideologie bezeichnet, dann entspricht das einem falschen Verständnis, weil der Kapitalismus zwar von Menschen gemacht wurde, aber längst nicht mehr von ihnen kontrolliert wird – sein Alleinstellungsmerkmal liegt in einer entscheidenden Eigenschaft, die bisher kaum erkannt und formuliert wurde, selbst von den Wissenschaften nicht: seine historisch beispiellose selbstregulative Funktionalität außerhalb des menschlichen Gesichtskreises. Der Kapitalismus ist ein imaginäres Ordnungsprinzip, das sich gleichwohl real und anscheinend unveränderbar etabliert hat. Dieses Ordnungsprinzip entzieht sich zunehmend traditionellen Werten und ethischen Normen, das Prinzip kann nicht konsensfähig sein, weil es keinen Konsens kennt, sondern nur Erfolg – ihm haftet deshalb auch nichts Visionäres an, Solidarität ist ihm fremd, ihm fehlt es faktisch an jeglicher Ausrichtung auf eines oder gar auf mehrere Ziele hin, die man gesellschaftliche Ideale nennen könnte. Dieser von der humanen Dimension abgehobene Neo-Kapitalismus macht was er will, mechanistisch und gesichtslos, ohne dabei über einen eigenen Willen zu verfügen – darin liegt kein Widerspruch, das ist das Erschreckende an ihm. Auf diese Weise hat sich zum ersten Mal in der Geschichte neben einer sozialen Infrastruktur eine asoziale Extrastruktur herausgebildet, die als solche bisher unzureichend wahrgenommen wird. Vor diesem Hintergrund wird umso klarer, dass neben der systematischen Tabuisierung des Themas vor allem ein Erkenntnisdefekt verhindert, sich mit dem Kapitalismus entschlossen und am Ende erfolgreich auseinanderzusetzen.
Als ich vor langer Zeit einmal an die tunesisch-algerische Grenze kam, hatte ich ein eigentümliches Erlebnis – es war Frühling, ich fühlte mich in ein weißes Blumenmeer versetzt. Die Grenze lag noch ein paar Kilometer entfernt, ich hielt an und stieg aus dem Auto, um mir die Blütenpracht näher anzusehen, mich interessierte auch der Duft… aber schon beim Aussteigen sah ich, worauf ich hereingefallen war: auf zehntausende Plastikfetzen, die sich in den kargen Büschen verfangen hatten, alles Reste von Plastiktüten. Es war deprimierend, nicht zum ersten Mal, ich dachte an die verschandelten Strände rund um das Mittelmeer, an grüne Wälder, die sich beim Eintauchen als Müllhalden erwiesen, an Hünengräber voller Unrat, an die Bewässerungskanäle von Kairo, in deren Schlick die Armen zwischen bunten Kunststoff-Eimern, Ziegenkadavern und zerfetzten Sofas nach Wertvollem suchten. Nun will man die Plastiktüten-Pest eindämmen – mit welchem Erfolg, das wird sich zeigen… doch -zig Milliarden Plastiktüten haben sich bereits auf der Erde und im Meer verteilt. Wer trägt die Schuld daran? Kein Mensch, es ist der Kapitalismus. Wer hat zu verantworten, dass sich in 80 Prozent aller Albatross-Mägen mindestens 15 Plastik-Teile von insgesamt mehr als 10 Gramm befinden? Nicht die Menschen haben das zu verantworten, denn die Menschen würden das auf keinen Fall wollen, sie verehren die Albatrosse, diese majestätischen Seevögel – es ist der Kapitalismus, der zu verantworten hat, dass auch diese Tiere in ihrem Bestand gefährdet sind. Man kann solche Beispiele tausendfach anführen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass niemals Menschen für etwas geradestehen, sondern immer nur Unternehmen, immer „nur“ anonyme Unternehmen, deren scheinbar natürliches Profitstreben als kapitalistischer Grund-Impetus gleichsam vergöttert wird.
Doch fast alle glauben an den Kapitalismus, ohne ihn geht es anscheinend nicht, in der Gegenwart und auch in der überschaubaren Zukunft nicht, sofern denn eine lebenswerte Zukunft erhalten bleibt. Andererseits kann es mit dem Kapitalismus offensichtlich nicht so weitergehen, wenn die Menschen ihre gemeinsame Zukunft sichern wollen. Als einziger praktikabler Ausweg bleibt, den Kapitalismus menschengerechter zu gestalten, aber – wie schon ausgeführt – kann man sich noch nicht einmal über diese Zielvorgabe einig werden, und dass es nicht gelingt, ist ein geradezu erschütterndes Armutszeugnis für den menschlichen Intellekt. Was hat die Aufklärung gebracht? Die Befreiung aus Irrationalität des Religiösen? – die Idee von einem autonomen Menschen im Sinne von Descartes, Kant und schließlich Hegel? – das naturwissenschaftliche Weltbild mit dem technischen Zeitalter, dessen Faszination rapide schwindet? Tatsächlich brachte die Aufklärung ein neuartiges Denken in seiner ganzen Vielfalt hervor, aber sie brachte keinerlei Fortschritt in Bezug auf eine neue und einigermaßen befriedigende Selbstverortung des abendländischen Menschen, nachdem er sich in einem über 300 Jahre dauernden Prozess von der Religion losgesagt hatte. Das Kreuz mit der Aufklärung ist, dass sie uns in einen tiefen Erklärungsnotstand über den Sinn unserer Existenz hinein geworfen hat. Man könnte auch sagen, dass die Aufklärung dem Menschen seine eigene Verklärung zu einem materialisierten Universalwesen ermöglichte, gleichermaßen eine ontologische Schein-Emanzipation, die in trügerische Orientierungslosigkeit mündete. Zwar wäre der Kapitalismus auch unter einer andauernden religiösen Vorherrschaft entstanden, jedoch hätte er unter keinen Umständen diese rigorosen Formen annehmen können, er hätte niemals in den Rang einer Ersatzreligion treten können. Wenn die europäische Zivilisation mit Unbehagen auf den Islam schaut, dann wegen der Entfremdungseffekte und wegen der vermeintlichen Terrorgefahr, die von ihm ausgeht… oder steckt noch mehr dahinter? Gibt es für dieses europäische Unbehagen noch andere Gründe? Ja, da ist noch mehr, viel mehr. Die islamischen Völker kennen den Spagat zwischen Physik und Metaphysik nicht, sie mögen zwar einen zivilisatorischen Aufholbedarf haben, aber sicher keinen in der Sinnsuche nach einem umfassend erfüllten Leben, so wie sie viele Westmenschen umtreibt. Die meisten Moslems sind, das glaube ich zumindest, mit sich und mit der Welt im Reinen – dazu verhilft ihnen ihr Glauben, ähnlich wie der Glauben auch dem ärmsten Hindu gestattet, sein Leben gelassen zu nehmen.
Solche Einsichten können neidisch machen, selbst wenn man nicht zum Islam konvertieren will oder sich im Buddhismus ausprobieren möchte. Der Kapitalismus enthebt mich scheinbar aller existenziellen Sorgen: Nahrung, Kleidung, Wohnung, Ordnung, alles da, alles sogar im Überfluss da, was will der Mensch mehr… und doch ist der Kapitalismus ein schlimmer, bösartiger Räuber: Er raubt mir das gute Gewissen, er raubt mir meine Menschlichkeit, meine Reflexe, auch für andere Sorge zu tragen, er raubt mir meine Empfindsamkeit, er senkt meine Hemmschwellen für Grausamkeiten, er macht mich immer mitleidloser, er raubt mir alle Exotik ferner Länder, er raubt mir das Faszinosum einer wunderbaren Natur, von der ich ein Teil bin, er raubt mir eine heile Welt, eine heile Erde, er raubt mir die heilige Erde. Das ist zu viel – der Preis ist zu hoch ein versorgtes Vegetieren.