– eine kleine Schach-Story
Was bilden sich manche Menschen ein? Sie können etwas, sie beherrschen ein Teilgebiet einigermaßen, meistens nur den Teil eines Teilgebietes, und sie halten sich für großartig. In José rumort Wut, er ist zornig… weniger darüber dass er schon wieder die Abfahrt verpasst hat. Der Bentley rollt ungehindert aus, er wird nicht gebremst, José schaut interessiert voraus auf die leere Straße, die sich schnurgerade durch den Dschungel schneidet, er fragt sich, wo der Wagen zum Stehen kommen wird. Hier also schon, er hat sich verschätzt, ein schwerer Bentley rollt nicht weit, nicht auf diesem groben Asphalt. Plötzlich erscheint ihm alles zu grob auf dieser Insel, auch die Menschen, sie haben zwar Lebensart, eine schlichte, sie leben unbeschwert in den Tag, doch ihnen fehlt die Empfindsamkeit, sie kennen keine Rücksichtnahme – und Donatus Sarmand, den er gerade besuchen will, ist besonders rücksichtslos, ein Ignorant von der schlimmsten Sorte.
Stille, nichts, nicht einmal Vogelgezwitscher. José hat das Seitenfenster heruntergefahren, die Hitze schlägt ihm in einem Schwall entgegen, das grelle Sonnenlicht wird nicht mehr von der getönten Scheibe abgehalten. Zu heiß, zu hell – mit einem Knopfdruck verabschiedet sich die Außenwelt, die Klimaanlage arbeitet effektiv. Er wendet. Unglaublich, es gibt nur ein paar Straßen auf der Insel, aber er fährt fast jedes Mal an dieser Abfahrt vorbei. Die Abfahrt kommt nun wieder in Sicht, vorne links wird das verrostete Schild erkennbar, es steht schräg, ein Auto muss es irgendwann gerammt haben – „Verdura Biológica“ – lachhaft. Bei Donatus kann man nicht einmal eine Gurke kaufen, die Tomaten sind verwildert, die Mangos lässt er einfach an den Bäumen hängen. Mit Donatus ist nichts anzufangen, man kann ihn vergessen. Beim Einbiegen auf den Schotterweg wird José zum ersten Mal bewusst, warum er so oft diese Abfahrt verpasst: Es ist ein merkwürdiges Unbehagen, wenn nicht sogar Angst.
Donatus Sarmand ist Anfang fünfzig, sie sind ungefähr im gleichen Alter, er sitzt draußen, er sitzt meistens draußen, wie gewöhnlich vom Meer abgewendet, doch nur so weit, dass er es mit einem Seitenblick erfassen kann. Er bildet sich ein, krank zu werden, wenn er zu lange auf das Meer schaut.
„Na, was machst du?“
„Ich sitze hier.“ José nickt ergeben, er hat keine andere Antwort erwartet, es ist jedes Mal die gleiche, sie begrüßen sich immer so. Er setzt sich auch hin, auf den klapprigen Stuhl, vor den klapprigen Holztisch.
„Ohne mich würdest du verhungern, Don.“
Señor José Enrique de Manon, Besitzer mehrerer Plantagen und reichster Mann der Insel, fördert aus einer Plastiktüte Esswaren zutage – salzige Kekse, schwarze Bohnen in Dosen, Möhren und eine Räucherwurst, die verschrumpelt aussieht. Er packt alles auf den Tisch.
„Auf dieser Insel muss niemand hungern“, erklärt Donatus feierlich, „sie ist reich gesegnet, mit Früchten auf dem Land und mit Fischen im Meer.“
„Dann geh angeln.“
„Du kannst mich nicht beeindrucken mit deinen Salzkeksen.“
Sie sitzen eine Zeitlang da und schweigen. José redet gern, nur hier nicht. Donatus lähmt sein Bedürfnis, sich über die Sprache auszutauschen. Auch ihre Blicke treffen sich nicht. Trotzdem, etwas geht vor zwischen ihnen, fühlbar, eindringlich. Jeder laute Satz würde ihre stumme Zwiesprache über das nicht Greifbare zunichte machen. Manchmal möchte José wissen, was ihn mehr hierher zieht, diese besondere Stille oder das Spiel.
Die Ruhe findet jäh ihr Ende, Donatus fängt an zu essen. Der hagere Mann mit dem fast hüftlangen grauen Haarschopf vertilgt mechanisch eine ganze Packung dieser billigen Kekse, sie zerkrachen zwischen seinen Zähnen, er zerstört sie regelrecht, und in den Pausen spuckt er aus, er prustet, unzählige Krümel werden durch die Luft katapultiert. José ist mit seinem Stuhl weiter weg gerückt, er weiß, dass gleich die Beschwerden über die Kekse kommen werden – doch wenn er ohne sie erscheint, dann ist Donatus beleidigt.
„Diese Kekse sind eine Strafe“, krächzt Donatus, „sie bringen mich um, man erstickt an dem Zeug.“
„Trink Wasser dazu.“ Sinnlos, José hat ihm diesen Ratschlag schon so oft gegeben.
Heute ist es nicht wie sonst, heute ist es anders… auf sein Gespür kann sich José verlassen. Donatus war kurz im Haus, nun kehrt er zurück, ein Tablett in den Händen, mit zwei Gläsern, mit einem Krug Eiswasser und mit der Flasche Rum. Er gießt ein, er serviert, ein großzügiges Zeichen seiner Gastfreundschaft. Nur wenige Besucher kommen in diesen Genuss, wozu aus Josés Sicht anzumerken wäre, dass sich sowieso nur sehr wenige Menschen hierher verirren – wenn man es genau nimmt, eigentlich gar keine außer ihm. Die Flasche Rum gehört dazu, obwohl sie zumeist unberührt bleibt.
„Du sieht schlecht aus, José.“
„Ich weiß.“
„Laufen die Geschäfte nicht?“
„Seit wann interessieren dich meine Geschäfte? Wollen wir eine Zigarre rauchen?“
„Ja.“
„Es sind klasse Zigarren, eine neue Entdeckung, ein Schatz. Ich hab dir sechs Stück mitgebracht, damit du etwas Vernünftiges zu rauchen hast.“
Donatus bedankt sich nie, aber er kann, so wie er es eben getan hat, seine Augenbrauen auf diese unnachahmliche Weise hochziehen, die man als Dank deuten kann.
„Du bist blass“, sagt Donatus. „Du brauchst Farbe, wir trinken einen Rum, ausnahmsweise. Ich hole noch zwei Gläser.“
„Und du solltest dich rasieren. Du siehst aus wie ein Penner.“
José blickt ihm auf dem Weg ins Haus hinterher – ein kümmerliches Häuschen, einsam über dem Meer gelegen, es gibt Strom, doch keinen Wasseranschluss, eine massive Hütte, drei kleine Räume und ein Miniaturbad, das von einer Zisterne mit Wasser versorgt wird. Im Verhältnis dazu ist die Terrasse geradezu weitläufig, hier hält sich Donatus die meiste Zeit auf, hier lebt er vor sich hin, hier träumt er vor sich hin, im Schatten der Bäume, in seinem geliebten Halbschatten unter den aufgespannten Tuchbahnen, die ihm der Wind in den Nächten immer wieder zerfetzt.
Sie trinken bedächtig ein gut gefülltes Glas Rum ohne alles, wieder wortlos, es ist ein exklusiver Rum, auch pur mild und aromatisch, er stammt von einer Nachbarinsel, und natürlich hat ihn José spendiert.
„Wirklich, dein Rum und diese Zigarre, das schmeckt mir“, sagt Donatus unerwartet, dann, noch unerwarteter, lächelt er plötzlich. „Ich hörte, dass dir ein besonderer Gast abhanden gekommen ist.“
José muss erst den Schock verarbeiten, fast hätte er sein Glas fallengelassen. „Von wem hast du das gehört, Don?“
„Ich war vor ein paar Tagen in der Stadt, um neues Tuch zu kaufen, weißt du. Miguel hat mich im Lastwagen mitgenommen… aber ich habe es nicht von Miguel, eine alte Marktfrau hat mir davon erzählt, ich kenne sie nicht.“
Die Insel ist klein. José hat viele Bedienstete, es hat keinen Zweck, weiter nachzuforschen. „Du hast das Geld für den Tuchballen anschreiben lassen.“
„Woher weißt du das?“
„Die Rechnung ist bei mir gelandet.“
Donatus Sarmand schweigt. Es wird Zeit, wieder zu schweigen.
Nach etwa zehn Minuten Stille möchte José noch ein Glas Rum. Er will sich den Rum nicht selbst einschenken, er fordert seinen Gastgeber auf, ihm diesen Dienst zu erweisen, in seiner Stimme schwingt ein gewisser Unterton mit, nicht drohend, aber befremdlich. Donatus Sarmand ist alles andere als ein furchtsamer Mensch, er hat sich das Fürchten abgewöhnt, sonst wäre er niemals zur Ruhe gekommen – er weiß, dass die Furcht überall grassiert, weil sich das Böse von ihr ernährt. José wird seinen Rum von ihm bekommen, er greift gelassen zur Flasche, gießt beide Gläser wieder voll, dann betrachtet er nachdenklich die Flasche – vielleicht noch ein Drittel übrig.
„Wir trinken sonst nicht“, sagt Donatus, etwas betroffen.
„Wir spielen gewöhnlich Schach.“
„Ja.“
José hat einen Schluck Rum genommen, er kommt wie aus heiterem Himmel in Rage und schnauzt Donatus an: „Seit Jahren quälst du mich mit dem Sizilianer! Dabei weißt du genau, dass mir diese Eröffnung nicht liegt.“
„Dann fang doch mit d4 an – mit d4 kriegst du nie den Sizilianer aufs Brett, das hab ich dir schon tausend Mal gesagt.“
„Ich bin eben ein e4-Spieler, seit meiner Kindheit, von Jugend auf.“ Josés Miene hat sich verdüstert, in seinem Blick widerspiegelt sich eine Mischung aus Entschlossenheit und Verzweiflung.
Das Schweigen hält nicht mehr, es liegt zu viel Spannung in der Luft, und der Rum lässt sie noch ansteigen. Donatus Sarmand wird sich zurückhalten, das steht fest. José darf auf keinen Fall auch nur eine Ahnung davon bekommen, wie er über die Veränderungen bei ihm denkt, das wäre gefährlich. Geld macht nicht glücklich, da sieht man es wieder: Señor José Enrique de Manon hat herumtelefoniert und sich einfach einen Spezialisten für Sizilianisch auf die Insel bestellt, wahrscheinlich gegen ein Honorar von zigtausenden Dollars.
„Wer ist es? Sag schon, Jose! – ist es Harry Kaspovitch oder Markus Claussen? Ich tippe auf Kaspovitch, der passt vom Alter her besser zu dir.“
„Don, du hast keine Ahnung, wieviel ein Coaching von Spitzenspielern heutzutage kostet. Ich behalte das besser für mich… stimmt, das würde dich nur unnötig irritieren. Aber ich verrate dir, wer es ist – Vlastomil Krumnich! Was sagst du nun?“
„Vlastomil Krumnich? Donnerwetter! Mein lieber Mann, da hast du ja voll zugeschlagen, Krumnich gehört zur absoluten Weltspitze.“
Josés Augen leuchten, er kann seinen Stolz nicht verbergen, er will es auch gar nicht.
Der Rum hat sich verflüchtigt. José musste das opulent bestückte Barfach in seinem Bentley aufsuchen, um für Nachschub zu sorgen. Nun steht eine neue, fast volle Flasche Rum auf dem Tisch, natürlich ebenfalls vom Feinsten.
„Und wo ist Krumnich jetzt?“, fragt Donatus. „Ich würde ihn, äh… auch gern kennenlernen, eine Sensation. Ist er schon wieder abgereist?“
„Nein, er ist weg, das ist es ja, einfach weg, vier Tage schon, wie vom Erdboden verschluckt – und das auf dieser kleinen Insel.“ José mustert Donatus kritisch, und der bemerkt es.
„Bist du dir da sicher, ich meine als Schachspieler? Wahrscheinlich hatte er keine Lust mehr und hat sich heimlich aus dem Staub gemacht.“
„Als Schachspieler, Don? Bilde dir besser nichts Falsches ein. Alle seine Sachen liegen noch im Gästehaus, seine Papiere sind noch da, Pass, Kreditkarten, alles – kannst du mir das erklären?“
„Nein. Was sagt denn die Polizei?“
„Die Polizei? Eine Handvoll Beamte mit Bauchansatz plus Sekretärin, die Polizei hat keinen blassen Schimmer.“
„Wie lange ist Krumnich überhaupt schon auf der Insel?“
„Seit neun Tagen. Normalerweise wäre er übermorgen geflogen. Meine beiden Piloten wussten über den Termin Bescheid.“
„Vielleicht hat er sich verliebt“, spekuliert Donatus. „Hier gibt es sehr schöne Frauen.“
„Unsinn, da ist etwas faul, da ist… etwas passiert.“ José stockt beim Sprechen, seine Stimme wird langsam immer schwerer. „Etwas Schlimmes ist passiert… vielleicht.“
Sie belauern sich. Der Rum in ihren Köpfen hat eine unangenehme Stimmung entstehen lassen. José fragt sich, warum er nicht schon lange angerufen hat, damit ihn jemand abholt und nach Hause fährt – er ahnt, dass ihm Donatus Sarmand etwas vorenthält, das er unbedingt wissen muss.
„Der findet sich wieder an, José – da kannst du ganz beruhigt sein. Ein Schachgroßmeister verschwindet nicht einfach so, das widerspricht diametral seinen Eigenschaften. Sag mal, wie lief das überhaupt so mit dem Coachen?“
„c3“, sagt José tonlos.
„Alapin, klar – ist doch nicht schlecht als Gegenmittel, wenn man sich nicht auf den Sizilianer einlassen will.“
„c3.“ José wiederholt sich. Plötzlich steht er mit einem Ruck auf und wird laut, sehr laut. „Immer wieder zweiter Zug c3, ich kann es nicht mehr hören! Dieser Vlastomil Krumnich wollte mich nicht coachen, er wollte mich fertigmachen, dieser komische Kerl. Und den Namen Alapin kann ich auch nicht mehr hören – jetzt kommst selbst du mir noch damit an. Simon Sinowjewitsch Alapin, Simon Sinowjewitsch Alapin, Simon Sinowjewitsch Alapin… ah, ich halte das alles nicht mehr aus!“
„Was ist denn los mit dir, José? Willst du dich nicht ein bisschen hinlegen?“
José läuft auf der Terrasse auf und ab, mit großen, weit ausholenden Schritten – dass sein Freund einen gehetzten Eindruck macht, wäre glatt untertrieben, konstatiert Donatus und richtet sich innerlich auf den nächsten Anfall ein.
„Nein, ich will mich nicht hinlegen, schon gar nicht in deiner verkommenen Bruchbude, wo die fetten Kakerlaken ihre Parties feiern. Wollen doch mal sehen, was du so drauf hast… die Rozentalis-Empfehlung? Also bitte!“
„Die was?“
„Die Rozentalis-Empfehlung!“, schreit José, „sechstens c4, schwarze Dame d8, dann siebtens Bauer d5, schwarzer Springer h6 – das Nevednichy-Konzept, verstanden?“
„Nein“, antwortet Donatus wahrheitsgemäß, „keine Ahnung, nie davon gehört, aber… aber reg dich doch nicht so auf José, das ist nicht gut für deine Gesundheit.“
„Der Sizilianer ist nicht gut für meine Gesundheit, er macht mich fertig, seit Jahren. Und wer wüsste das schon besser als du? Du hast die Schuld… und Sweschnikow, Kalaschnikow, Taimanow, und wie diese Banditen alle heißen.“
„Du hast das niederländische Seebad Scheveningen vergessen…“
„Wieso Seebad?“, unterbricht ihn José, „Scheveningen – d6, e6 – der Ur-Sizilianer.“
„Scheveningen ist ein Seebad an der Nordsee, mit einem monumentalen Kurhaus, eine Augenweide, es steht unter Denkmalschutz, du solltest es dir mal ansehen – abgesehen davon hast du auch noch die Drachen vergessen, Najdorf und noch einige andere. Allein Najdorf stellt ein Universum für sich dar, das sagt man jedenfalls.“
„Ach, Don – man sagt vieles, wenn der Tag lang ist.“ José hat sich hingesetzt, er beruhigt sich allmählich wieder. „Meine geschiedene Frau hat mir früher einmal ein Werk über die französische Verteidigung geschenkt, zum Geburtstag. Solche maliziösen Geschenke waren typisch für sie, drei Bände, zweitausend Seiten… wer soll das lesen, frage ich dich, wer soll alles das in seinem Kopf behalten, was allein in diesen drei Büchern steht? Die Maschinen sind dabei, die Menschen im Schach endgültig zu überholen. Die Menschen gehen unter im Daten-Tsunami. Noch mokieren sich die Großmeister über Fritz und Houdini, aber das sind die wahren Zauberer der Zukunft. Die Großmeister haben ihre Meister im Cyber-Nirwana gefunden, sie wollen es bloß noch nicht zugeben. Wo bleibt dann das Selbstwertgefühl, wo bleibt der Stolz? Kann man sich auf Dauer damit rühmen, fast so perfekt wie eine Maschine zu funktionieren?“
„Ja, damit kann man sich rühmen“, bemerkt Donatus trocken, „und die Großmeister tun es auch, zu Recht. Was fasziniert dich übrigens so an Französisch? – es ist für mich fast wie ein kompliziertes Ritual, eine Art Umkreisungssystem, alles kreist um d4, der f6-Vorstoß steht im Raum, Schwarz werkelt am Damenflügel, und Weiß lauert ständig auf einen Überfall am Königsflügel, irgendwie immer wieder ähnlich.“
„So einfach ist das nicht, das weißt du selbst am besten… oder auch nicht, denn du vergötterst ja den Sizilianer.“
Donatus nickt, dann sagt er: „Vergessen wir mal die Eröffnungen. Überragende Schachspieler sind keine Rechenmaschinen, keine Gedächtnismeister, keine wandelnden Festplatten und Fotoapparate, sie sind auch nicht alles das zusammen, obwohl es in dieser Kombination schon sehr, sehr viel wäre – überragende Spieler fühlen, sie haben Intuition, zum Beispiel intuitives Stellungsverständnis, also ein im Kern irrationales, das kein Schachcomputer jemals haben wird.“
„Und daran glaubst du, Don?“
„Was glaubst du denn, José? Dass Houdini bald Gefühl für einen Tempo-Zug entwickelt?“
„Ich weiß es wirklich nicht, aber vorstellbar wäre es. Mit Algorithmen kenne ich mich nicht aus, vieleicht schlummern wunderbare Eigenschaften in ihnen, die man noch nicht kennt. Houdini und Fritz sind mächtige Computerprogramme, keine Zauberer – es sind Ungeheuer. Für mich ist eines klar: Die Menschen können erst wieder befreit gegeneinander Schach spielen, wenn sie sich wieder auf sich selbst konzentrieren und wenn sie diese Ungeheuer aus dem Schach verjagen, sonst werden sie zu Schach-Kastraten. Dann hat dieses schöne Spiel keine Zukunft.“
Das Schweigen ist wieder harmonisch geworden.
„Wir trinken gar keinen Rum mehr“, sagt Donatus. „Magst du nicht mehr?“
„Hmh… doch.“ José schaut Donatus lange prüfend an. „Ich möchte weiter Rum trinken, aber nur, wenn du mir eine Frage ehrlich beantwortest.“
„Mach ich, José – welche Frage?“
„Warum hast du kein drittes Glas mitgebracht?“
Donatus Sarmand ist rot geworden, das hat José bei ihm noch nie erlebt.
„Weil er unten am Meer angelt – er angelt, er macht das, was du mir vorhin vorgeschlagen hast. Er angelt ununterbrochen, seit drei Tagen, stundenlang, von morgens bis abends.“
„Ich hätte dich nicht erwähnen sollen, Don, ich hätte ihm deinen Namen nicht sagen dürfen… schenk uns noch einen ordentlichen Rum ein.“
„Ok. Weißt du, warum er verschwunden ist?“
„Lass das, ich kann es mir denken.“ Josè nimmt das Glas entgegen und trinkt es in einem Zug leer.
„Nein, ich lasse es nicht. Er ist vor dir geflohen, José.“
„Das ganze Geld kann er behalten, er hat es sich verdient.“
„Komm mal mit!“
José wankt benebelt hinter Donatus her.
Schon nach kurzer Zeit erreichen sie die Abbruchkante des Felsgesteins – sie haben Glück, die Farben am Himmeln beginnen zu wuchern, vor ihnen sinkt die Sonne majestätisch ins Meer, nur für Schachspieler hebt sich der Horizont. Donatus zeigt mit dem Finger nach unten, auf eine bestimmte Stelle: „Siehst du das Strichmännchen da?“
„Ja“, bestätigt José. „Es ist Vlastomil Krumnich, nicht wahr?“
„Richtig.“
„Sag mal, Don… hab ihr überhaupt schon gegeneinander gespielt?“
„Nein, noch nicht ein einziges Mal. Ich hätte sowieso keine Chance gegen ihn, es wäre ein Mismatch. Wir haben uns unterhalten, auch über Schach, aber nicht nur über Schach – auch über dich zum Beispiel. Danach hat er sich gleich hingelegt, in dem kleinen Zimmer, wo nur die eine Matraze liegt, ich hab ja nur das als Besucherzimmer. Am nächsten Morgen hat er sich die beiden Angeln geschnappt und war weg.“
„Fängt er denn auch etwas?“
„Er sagt, dass er schon 14 große Fische gefangen hat – er wirft sie ins Meer zurück.“
„Vlastomil Krumnich muss ein glücklicher Mann sein.“ José Enrique de Manon schaut weit hinaus, er wird hier warten, bis die Sonne im Meer versunken ist. Vielleicht möchte er dann noch mit dem Schachgroßmeister einen Rum trinken.