Früh verzichtete er, ihm kann nicht viel genommen werden, er existiert in einer Verkleinerungsform, das Leben folgt dem Vorgang und passt sich an. Größe kann keinen Platz greifen, die Energien sammeln sich nicht, sie verströmen auf einem Glacis, wo sie leichte Ziele sind. Aus dem Dunkel wurde ihm das Leben zugeworfen, seine persönliche Wundertüte. Überall die Wundertüten, zahllos, massenhaft, die meisten ohne Wunder, dafür prall gefüllt mit allem was die Neugierde stillt. Das Dasein eröffnet sich durch einen Riss, er setzt sich fort, gibt eine Zone frei, in die gleichmütig die Zeit hinein treibt, um sich durch ihr Vergehen scheinbar abzuhandeln. Er er scheut Blicke in das Innere der Wundertüte, meidet Momentaufnahmen und Schnappschüsse, er will sich nicht unnötig bewegen in der dürftigen Möblierung seiner Gedankenwelt.
Er muss nicht sein, Anwesenheit ist kein Gebot, Leben kein Gesetz. Alles soll auf etwas zu laufen – schon so oft kam er an und lief vorbei, ging einfach weiter. Das ist kein Weg, kein Weg, der auf ein Ziel zu führt und das Ziel in sich birgt. Nullstellen bieten sich an, er besetzt sie, es sind Ruhepunkte in der Distanz zwischen dem Nichtigen, Orte seiner Einbildung vom Einklang. Im Verharren oszilliert eine kryptische Seligkeit. Er scheut Wendepunkte, will nicht von fremden Kraftschüben aus dem Verborgenen in andere Richtungen gelenkt werden. Manchmal geht er in die Stadt, um sich an der Weglosigkeit der Flächen zu berauschen – seine Ekstasen sind Menschen, die sich in der Leere drängen, er beobachtet fasziniert ihre Eile, wie sie sich im Vorbeigehen verhalten ohne zu verhalten, wie sie in jähen Blickkontakten miteinander umgehen, wenn sie sich umgehen, wie sie sich im letzten Moment unausweichlich ausweichen.
Mächtig sind die Hotelhallen, sie haben ihren eigenes Firmament – mit Bewunderung ist das Entree entrichtet. Der Concierge akzeptiert schweigend die Ehrerbietung des Besuchers vor dem hoch Aufragenden, noch fragt er nicht nach Wünschen. Fahrstühle gleiten lautlos an den Wänden auf und ab, Monstranzen mit Gebrauchswert, Devotionalien an den heiligen Algorithmus, Illusion von Schwerelosigkeit. In den Kathedralen zu beten, muss gestattet sein, der livrierte Page wird zum Messdiener, er schleicht an dem Besucher vorbei, als der seine Hände gefaltet hat. Dastehen, die Augen nach oben gerichtet – kein Gebet, ein Gefühl von Bedrückung beschleicht ihn, er kommt sich winzig vor, so wie es sein soll. Früher durften die Tempel vom Volk nicht betreten werden, sie waren den Kundigen vorbehalten, den Priestern, die den Göttern nah waren und die sich mit ihnen sogar vereinten. Daran hat sich bis heute nichts geändert, auch heute sind die Götter für die meisten Menschen unnahbar, aber es gibt mehr Tempel – nur statt Altären sind es Rezeptionen für die Kunden, statt Steinblöcken sind es Glasfassaden, statt Säulen ist es die angemaßte Überwindung der Schwerkraft. Leichtigkeit soll sich mit Größe verbinden, welch ein Vorsatz – das moderne Pantheon strebt nach oben, nicht ins Innere.
Er findet keine Bilder von sich, nicht im Personalausweis, nicht morgens im Bad. Wie er manchmal die Frauen beneidet um ihre Spiegel, sie haben immer einen zur Hand, wie einen Schlüssel zu sich selbst, sie schauen prüfend hinein, ohne dass jemand daran Anstoß nimmt. Schönheit wird wie Gold begehrt, ein Mensch muss Wünsche haben… und seien sie noch so klein, noch so einfach, noch so profan – nichts fürchtet er mehr, als sie zu verlieren, das ist seine Angst. Die Vorstellung von einem wunschlosen Glück verwirrt ihn, Wünsche malen das Leben bunt aus, sie geben ihm Farbe, und auch wenn ihre Unerfüllbarkeit sie am Ende in Fetzen auflöst, so verdichten sich die Fetzen doch zu flüchtigen Schwärmen im Wind, der sie in Silhouetten von Sehnsucht verwandelt. Das sind Aussichten – daran kann er sich Augenblicke lang festhalten, an dem was er nicht greifen kann, an dem was er niemals begreifen will. Was dauert, das täuscht. Im Farbenspiel der Dämmerung kommt kein Fels einem Anblick gleich, der ihn bis in seine Träume begleitet. Harte Steine, Felsen, Granitblöcke aufgetürmt zu Pyramiden, sie alle sind Fallen der Zeit, mit denen sie die Menschen einfängt.
In Aufwallungen spürt er seine Verhärtung, möchte sie aufweichen, sie überwinden – er sollte zärtlicher sein, doch er findet niemanden, mit dem es ihm gelingt. Da waren Frauen, die seine Zärtlichkeit entgegennahmen, die sie absorbierten und dann nur wenig zurückgaben, da waren Kinder, die seine Zuwendung aufaßen wie ein Brötchen mit Marmelade, da waren mitfühlende Mienen, die sich auf einen Zuruf abrupt von ihm abwandten. Denken ist Gift für die Zärtlichkeit, seine Existenz verläuft von Tag zu Tag toxischer, schlimmer noch, er selbst hat sich zu einem Giftmischer entwickelt. Alles Sanfte eignet ihm nicht, ihm bleibt allein die Vision von Reinheit. Er möchte seine Sinne für das Unverfälschte schärfen, er möchte zurück zu der umfassenden Natur, die zwar vor Ausscheidungen wimmelt, vor Aas und vor Millionen von Keimen, die aber nicht verdreckt ist, die keinen Unrat kennt und keine Müllberge – dann wird er die Landschaften wieder in sich aufnehmen, sie werden ihn aufnehmen, und er wird sie nicht nur wie ein Zuschauer von außen betrachten, dann wird er tief in die Natur eintauchen, bis zu dem Punkt, an dem sie sich mit ihm selbst aus allen gesetzten Spannungen und Gegensätzen löst. Dort, dort wo er nicht mehr allein ist, liegt seine wahre Existenz.