Das Netz quillt über vor Lyrik, vor Blümchengedichten und Befindlichkeitsdichtereien über die typisch deutschen reimverliebten Tiefschürfereien bis hin zu ausgefeilten Haikus und Experimental-Lyrik.
Aus der Masse ragt die Slam-Poetry heraus, wohltuend unbefangen, mit dem Image des Spontanen, außerdem zeitgemäß in ihrer Verbindung von Vortrag mit Performance. Ich habe allerdings den Eindruck, dass hier eine gewisse Effekthascherei die Qualität der Texte verwässert – der Inhalt rangiert tendenziell zu weit hinter der Kunst, ihn eindrucksvoll zu vermitteln.

Der Überfluss an Lyrik hält jedoch die Lyriker nicht davon ab, sich maßlos selbst zu überhöhen, sobald sie ein paar ihrer Werke in einem Gedichte-Forum oder in irgendeiner unbeachteten Anthologie untergebracht haben – der Hang zum Elitären ist in der Lyrik immer noch sehr ausgeprägt, man bildet exklusive Zirkel und besucht die Lesungen, bei denen man nach einer Stunde gegen die Müdigkeit ankämpfen muss. Ich bin einmal eingetaucht in den Vanity Fair der Kulturbeflissenen und Hochmögenden, nie wieder… „Was meinen Sie, worin liegt die Aussage des lyrischen Werkes von Raoul Schrott?“
Oha, eigentlich keine Ahnung, und nein, dieser Form von Fachkonversation bin ich sowieso nicht gewachsen.

Der deutschen Lyrik fehlen das Gleichgewicht, die Passion und eine größere Gelassenheit bei dem Prozess, sich ihr persönlich anzunähern. Das Ungleichgewicht äußert sich im bereits erwähnten Missverhältnis zwischen Textausstoß und Lesefreude – es gibt unter dem Wust wunderbare Gedichte, die in ihm untergehen, es ist eine Kunst, sie zu finden, aber wenn man einmal eines gefunden hat, dann ist die Freude groß. Womit man bei der Passion wäre: Wenn die Gesellschaft Dichtung nicht mehr wertschätzt und sich nicht mehr an ihr erbauen kann, dann kann man auch ihren Niedergang nicht mehr wegreden.

Lyrik ist konzentrierter literarischer Genuss, er kann wie Dope wirken, doch man muss ihn sich selbst in aller Ruhe verabreichen.

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Posthum aus Texten von Hans-Wilhelm Precht