– oder die Furcht vor einem überfälligen Anspruch

Wir leben ohne Ziel. Jeder einzelne darf in einer freizügigen Gesellschaft ohne Ziel leben – die Gemeinschaft darf es nicht. Von welcher Gemeinschaft ist die Rede? Von der Weltgemeinschaft. Am Beginn des 20. Jahrhundert war die Welt noch groß, zu groß, um als Einheit betrachtet zu werden, am Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Welt klein geworden, zu klein, um nicht als Einheit betrachtet zu werden. Im vorigen Jahrhundert haben sich nebeneinander gewaltige Entwicklungen und Fehlentwicklungen der Menschheit vollzogen, die in ihren Dimensionen bis heute noch nicht richtig wahrgenommen werden – es wird Zeit, die Perspektive den Realitäten anzupassen.

Wir leben ohne Ziel in einem Weltkollektiv, das diese Bezeichnung noch lange nicht verdient. In der Organisation der Vereinten Nationen multipliziert sich nicht die Kraft der 200 Staaten auf der Erde, weder repräsentativ noch operativ – die UN vermittelt jedoch vielen Menschen den Eindruck, dass ein kompetentes Welt-Leitgremium existieren würde, was in Wahrheit ein fataler Fehlschluss ist. Die Erde taumelt führungslos vor sich hin, und damit steigen die Gefahren für die Kollektivexistenz enorm an. Ohne ihre Auswirkungen zu untersuchen, wird die Globalisierung mit der Kommerzialisierung aller Lebensbereiche nicht nur fortgesetzt, sondern sie wird sogar noch rücksichtslos ausgeweitet. Die eklatanten Widerspüche, die sich aus dem Durchpeitschen ergeben, ignoriert man einfach. Das alles ist hinreichend bekannt, wir wissen Bescheid über den gegebenen Handlungsdruck, wir sehen alles kommen: Deshalb bleibt in dieser Lage nichts anderes, als energisch eine Neuausrichtung unserer Lebensweise anzustreben, um die Menschheitsentwicklung auf der Erde für die nächsten Jahrhunderte zu stabilisieren.

Zwischen dem Erkenntnisstand zur Welt und der Bereitschaft, die Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen, klafft eine ungeheure Lücke – sie tut sich überall auf, bei der Überbevölkerung, bei der Klima-Problematik, bei der Umweltzerstörung, bei der Überbeanspruchung der Rohstoffreserven, beim Artensterben, bei der Zerstörung der Sozialsysteme und so auch jeden Tag bei der millionenfachen Entwürdigung des Menschen. Welches Ausmaß hat unsere Selbstverleugnung erreicht, dass wir diese unerträglichen Verhältnisse als normal akzeptieren? Ein erschreckendes Ausmaß, es ist eine Bankrotterklärung vor unseren tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten, korrigierend Einfluss zu nehmen.

Wo bleiben in dieser Bedrängnis die Wissenschaften? Was erforschen sie eigentlich, was bringen sie an Gutem für die Menschen hervor? Noch raffiniertere Tablets, noch effektiver genmanipulierte Pflanzen, noch intelligentere Drohnen, die die Menschen ausspionieren oder ihnen sogar den Tod bringen, noch bessere Möglichkeiten, das Lebensalter auf 100 Jahre hochzuschrauben bei Menschen, die sich dann meistens kaum noch als solche wahrnehmen können. Das sind trügerische Erfolge und fragliche Zielsetzungen, sofern man überhaupt noch von Zielen sprechen kann – alle Orientierung ist verlorengegangen, keiner weiß, wo es langgehen soll, niemand fragt mehr nach dem Sinn von Forschung. Die Unabhängigkeit, auf der die Wissenschaften immer so großtuerisch insistieren, ist zu einer traurigen Farce geworden, die Wissenschaften haben sich in eine emsige Ohmacht vor den vermeintlichen ökonomischen Sachzwängen verrannt oder sie pflegen in Nischen ihren Narzissmus – ausgerechnet die Wissenschaften, die viele Menschen mit Zukunftshoffnung und Fortschritt verknüpfen.

Wenn aber die Politik total versagt, wenn die Wissenschaften versagen, wenn sich das weltweit regierende Unternehmertum nicht endlich neue Standards und Kriterien ihres Wirtschaftens setzt – wie kann sich unter diesen Umständen dann überhaupt ein globales Gemeinschaftsbewusstsein herausbilden? Wie kann ein Führungskollektiv für die Erde entstehen, das wir so notwendig brauchen? Die Antwort ist eine düstere: Es gibt keine realistischen Chancen, man kann nur das herannahende Chaos erwarten und es in Gedanken zum Schlüssel für eine bessere Zukunft machen: Die große Destruktion wird zum brachialen Regulator des Weltgeschehens, die Auflösung der Ordnung wird zur Lösung, je stärker die Massenverlendung fortschreitet, je großflächiger sie um sich greift, desto näher rückt der Punkt, an dem schließlich die Katharsis einsetzen kann – und in diesem Prozess der Neufindung, der Neu-Erfindung einer menschengerechten Lebensgemeinschaft wird sich eine in ihren Intentionen gründlich revidierte Idee der Kontrolle als humanes Universalinstrumentarium durchsetzen. Doch bis dieses konstruktive Stadium erreicht ist, werden mindestens noch zwei, wenn nicht mehr Jahrhunderte vergehen. Ich denke, dass mit einer nachhaltigen Stabilisierung der Welt-Zivilisation erst gerechnet werden kann, wenn sich die zweite Hälfte des dritten Jahrtausends schon so langsam in den Blick schiebt, dann möglicherweise mit einer Weltbevölkerung, die wieder unter dem gegenwärtigen Niveau liegt, vielleicht bei fünf bis sechs Milliarden Menschen… aber es bleibt ein Rätselraten mit mehr oder minder großen Wahrscheinlichkeiten – denn zu verfahren ist die Lage, zu übermächtig erscheinen alle die Probleme, zu blind und zu unentschlossen die Entscheidungsträger in ihrer internationalen Desorganisiertheit.

Wie es nach dem massiven Einbruch in der Menschheitsgeschichte auf der Erde aussehen wird, darüber lässt sich nur spekulieren: Wahrscheinlich muss man mit einer kargen und in vieler Hinsicht verarmten Erde vorlieb nehmen, man wird mit allen Mitteln versuchen, zu retten, was noch retten ist, man wird die Luft atmen müssen, die geblieben ist, und man wird die Atmosphäre sich langsam wieder selbst regenerieren lassen durch Schonung der Natur – man wird sich von einer abgeklärten Sicht auf die Erde mit ihren Menschen leiten lassen, die uns heute exotisch vorkommt, ein ganz neues, ein jetzt noch utopisch anmutendes Weltbild wird sich durchsetzen und den Alltag wie selbstverständlich bestimmen. Das Leben wird im Vergleich zur Gegenwart fundamental anders aussehen. Unsere Vorstellungskraft reicht nicht aus, um uns heute ein Bild von dieser Existenz in der gar nicht allzu fernen Zukunft zu machen. Ich gehe davon aus, dass dann die tückische Faszination der Technik und der Naturwissenschaften zwar nicht ganz aus den Köpfen verschwunden sein wird, aber kaum noch eine Rolle spielt – die Technik und die heutzutage grotesk überbewertete elektronische Kommunikation wird man in Zukunft viel pragmatischer betrachten, beide werden strikt in den Dienst des Menschen gestellt, weil man mit ihren dämonischen Verselbständigungen bittere Erfahrungen gemacht hat, Ähnliches gilt für die Freiräume des Kapitals und des Marktes in der Zukunftsgesellschaft. Vorstellbar wäre auch, dass der Religiosität wieder mehr Bedeutung zukommt – der Glauben wird sich in anderen als den heute gängigen Ritualen erneuern, man wird sich dem für den Menschen schicksalhaften Phänomen der Transzendenz wieder bereitwillig öffnen und es nicht länger aus der Hilflosigkeit des materialistischen Denkens heraus verdrängen, der Glauben wird mit von der Historie entrümpelten Inhalten wieder zu den Menschen zurückkehren, die Menschen werden wieder glauben, möglicherweise intensiver als je zuvor, vielleicht bricht ein phantastisches Zeitalter der modernen Priester an.

Mit Kontrolle verbindet sich gegenwärtig fast automatisch das Gefühl von Gefahr, von Bedrohung, von Überwachung, von Fremdbestimmung und von deformierenden anonymen Zwängen, denen man nicht ausgesetzt sein will – doch dieses negative Bild von der Kontrolle wird sich allmählich in ein positives verwandeln, nämlich in dem Maße, in dem sie der Mensch wieder selbst übernimmt, um seine ureigenen Interessen zu wahren. Wir leben in einem Zustand weitgehend sinnloser und zielloser Kontrolle, uns kontrollieren technisch-paramenschlich organisierte Gebilde: die Regierungen, die Gesamtheit der großen Unternehmen sowie eine Vielzahl von halbstaatlichen und überstaatlichen Organisationen, die fast alle in ihren Zielsetzungen sehr undurchsichtig sind – hier wütet eine pervertierte Form von Kontrolle, von der sich die Menschheit befreien muss. Es ist der Ausfluss eines Ultilitarismus, der zu einem auf das vordergründig Sachdienliche reduzierten Zerrbild seiner selbst geworden ist, die Funktionalität des Seins hat sich vor seine Sinnhaftigkeit geschoben und beharrt auf ihrem Vorrang. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Ja, tatsächlich, denn das Vertrauen in die Machtkonstellationen, in denen wir heute gefangen sind, ist erschüttert, wir müssen feststellen, dass sich diese Machtkonstellationen gegen uns richten – um diese Angriffe zu beenden, hilft nur eines: mehr Kontrolle, Gegenkontrolle.