Einmal fuhr ich auf der Autobahn vor mich hin, in angemessenem Tempo, so etwa zwischen 100 und 200 Kilometer pro Stunde, als plötzlich dem Armaturenbrett eine Ansage entwich – ich stutzte, sie kam nicht aus dem Radio, es konnte eigentlich nicht das Radio sein, weil ich im Auto kein Radio hören mag, wahrscheinlich kam die Ansage aus dem Navi, das allerdings auch ausgeschaltet war. Ich rätselte noch darüber herum, als die Stimme schon wieder ertönte… nein, sie ertönte nicht, sie schmeichelte meinem Ohr, eine Frauenstimme mit einem so verführerisch erotischen Timbre, dass ich vor lauter Lauschen gar nicht begriffen hatte, was mir die geheimnisvolle Dame mitteilen wollte, das klappte erst beim dritten Anlauf: Sie warnte mich dezent vor einem Stau.

Eine faszinierende Stimme, außerdem hatte die Dame Recht, Staus sind schlimm, verlorene Lebenszeit, wiederkehrende Existenzkrisen im Kompaktformat, gedehnte Zeit im Zeitraffer. Staus können das Fahrtziel erschreckend nichtig werden lassen – sofern man ein Fahrtziel hat, und wenn man keines hat, dann fühlt man sich umso sinnloser gefangen in seiner Blechkiste. Oder sind Staus doch keine verlorene Lebenszeit? Es kommt auf den Stau an.

Es gibt den alltäglichen Zufallskurzstau und den Stop-And-Go-Stau, bei dem der Optimismus rhythmisch den Ärger verdrängt, es gibt den Überraschungsstau, bei dem man gerade noch rechtzeitig bremsen konnte, es gibt den Pendler-Großraum-Stau, der gleich Zehntausende zu Fatalisten werden lässt, es gibt den müden Morgenstau, den melancholischen Abendstau, es gibt den Großstadt-Stau, den Kleinstadt-Stau, es gibt den Bundesstraßen-Trecker-Stau, der in Verbindung mit zwei Anhängern Mordgelüste bei den nachfolgenden Autofahrern auslöst, es gibt den Rentner-on-the-road-Stau und den Mutter-parkt-rückwärts-ein-Stau, und dann gibt es noch den Stau, auf den ich schon die ganze Zeit hinauswollte: den Urlaubskernstau.

Über den Urlaubskernstau gehen die Meinungen auseinander – für manche Zeitgenossen ist er schon Teil der Ferien, sie stehen mit einer Dose Redbull in der Hand bestens gelaunt auf der Standspur und würden dort am liebsten ihr Zelt aufbauen. Bei diesem Stau saßen die Leute fröhlich auf den Leitplanken, man schätzte gemeinsam die Distanz zum Rettungshubschrauber ab, dessen Knattern von irgendwo herüberwehte, die Sportlichen machten ihre Freiübungen, die Wohnmobilisten rotteten sich zu Fachgesprächen zusammen – andere verbarrikadierten sich in ihren Autos und drehten die Musik laut auf, und wiederum andere standen nur belämmert herum oder latschten sinnlos hin und her.

Zu dieser Sorte gehörte auch ich, ich blickte in den Himmel, die Farben schwanden, sie hatten ihren Glanz verloren – eine lange Sommerdämmerung, die langsam in die Nacht überging. Der Zufall wollte es, dass ich mit meinem Wagen auf der Kuppe eines Hügels zum Stehen gekommen war, ich hatte eine weite Sicht nach hinten und vorne… mein Gott, so viele Autos, unzählige, eine schier unendliche Autoschlange, eine mehr schimmernde als leuchtende Karawane, die sich nach beiden Seiten in der Ferne verlor. Die andere Fahrtrichtung war frei, es herrschte zwar auch dichter Verkehr, aber die Auto rauschten vorüber. Mir kam der böse Verdacht, dass manche Fahrer höhnisch herüberschauten, und ich fragte mich, wo all die Menschen überhaupt noch hin wollten an diesem späten Juni-Abend. Mittelgebirgslandschaft, überall Wald, keine Orte zu sehen, der schillernde Bandwurm wirkte unheimlich auf mich, er passte so gar nicht in diese einsame Landschaft, er zerschnitt sie in zwei Teile.

Nach einer halben Stunde kamen mehrere Polizeiwagen angefahren und führten die Autos, aber nur die PKWs, über eine improvisierte Behelfsausfahrt auf eine Umleitungsstrecke, die immer abenteuerlicher wurde. Es war ein schmaler landwirtschaftlicher Wirtschaftsweg, streckenweise Asphalt und dann wieder löchriges Steinpflaster, ein Gerumpel durch die Nacht, immerhin durch eine mondbeschienene. Einige Wagen vor mir war jemand in den Straßengraben geraten, schon wieder ging nichts mehr – ich stieg aus, man besprach sich kurz, und dann machte ich mich zusammen mit etwa zehn anderen Männer daran, den Volvo V70 zurück auf den Ackerweg zu wuchten. Das wurde aber viel schwieriger als erwartet: Der Graben erwies sich als zu tief, das Gewicht des Wagens als zu groß, ich schwitzte, meine Hose hatte einen Riss, ich hatte die Schnauze voll. Inzwischen war auch die Polizei vor Ort, sie erschien mit Blaulichtgewittern und mit übertriebenem Tatü-Tata, sie leuchtete das Geschehen gnädig aus, eine gespenstische Szenerie. Es gab Streit, weil die parkenden Autos die vielen anderen am Weiterfahren hinderten, Geschrei, zwei Männer wurden handgreiflich und mussten voneinander getrennt werden. Dann endlich rückte die Polizei mit einem VW-Bus an, der eine Seilwinde hatte – daraufhin ging alles ganz schnell, der Volvo stand wieder auf der Straße, und er lief noch einwandfrei.

Es ging auf Mitternacht zu, die Umleitung war immer noch nicht zu Ende, ich hatte das Gefühl, schon stundenlang an den Rücklichtern des Vorausfahrenden zu kleben – da sah ich plötzlich seitlich ein Licht, möglicherweise eine Pension oder wenigstens eine Kneipe. Nur Sekunden später wurde ein Ortsschild von den Scheinwerfern erfasst, ein Weg führte rechts ab, ich entschloss mich spontan, ich verabschiedete mich aus dem endlosen Autokonvoi. Tatsächlich, das Licht kam näher, es mochte noch einen halben Kilometer entfernt sein, schwer einzuschätzen im Dunkeln, meine Vorfreude nahm konkrete Formen an: ein Bier, noch ein Bier, zwar keine Speisekarte mehr, aber vielleicht ein Snack, ein Butterbrot, vielleicht sogar ein Zimmer. Es war eine großes Neon-Display, ich parkte direkt davor und starrte es an: „Gebr. Alvesen – Landmaschinen und Reparatur“. Der Hund hatte sich aufrecht am hohen Zaun verkrallt, er bellte bösartig, kein Mensch war zu sehen, es brannte kein Licht in den Fenstern, es gab nur dieses überdimensionale Leuchtschild im Nirgendwo. Nach ein paar hundert Metern ließ ich den Wagen ausrollen, auf einem Platz neben dem Weg. Ich stieg aus, eine Bushaltestelle mit einem Unterstand, ich ging ein bisschen auf und ab, um mir die Beine zu vertreten – der Mond schien, ein friedlicher Platz, ich war nicht mehr enttäuscht, ich war wieder ganz zufrieden, ein guter Ort zum Schlafen.