Deutschland – das besinnungslose Land
Gestern, am 8. November 2013, erschien ein Artikel in SPIEGEL-Online: „Juden in Deutschland fürchten wachsenden Antisemitismus“. Darunter ein Foto von drei Grabsteinen in einer Reihe, auf die flächendeckend große Hakenkreuze gesprayt waren, babyblaue Hakenkreuze auf schwarzen Grabsteinen, kein schöner Anblick. In dem Artikel steht, dass sich die meisten Juden nicht in Deutschland wohlfühlen, immer noch nicht… wie sollten sie es auch angesichts dieses Hasses, der ihnen nach wie vor entgegenschlägt. Die meisten SPIEGEL-Artikel, bei denen es um das Judentum geht, kann man für gewöhnlich nicht kommentieren, die Funktion dafür wird abgeschaltet. Das ist gängige Praxis beim SPIEGEL, weil die zu erwartenden Kommentare zu prekär ausfallen würden – Angst essen deutsche Journalistenseele auf. Volksnahe oder auch nur vereinfachende Betrachtungen über Judentum und Zionismus gelten als unmöglich, sie sind nicht zu vereinbaren mit einer typischen Disziplin der Distanz, der sich die nationalen Leitmedien seit langem befleißigen und die eine dezent trauerdurchwachsene ist, eine Hab-Acht-Haltung mit dem gesenkten Kopf vor der Wand.
Eigentlich könnte man über die Selbstdisziplinierung froh sein. Andererseits bleibt ein mulmiges Gefühl, weil diese Kuratel einen drohenden Kontrollverlust unterstellt. Die Journalisten sind die Jägermeister des deutschen Unwesens, sie halten immer Ausschau nach intellektuellem Niederwild und teutonischen Grunzochsen. Eine der am längsten anhaltenden Folgen des Nationalsozialismus ist die Lauerstellung, die die Deutschen gegenüber sich selbst eingenommen haben, eine längst internalisierte Dauerverkrampfung. In den Redaktionen herrscht ständig Alarmstufe schwarzrotgold, man ist sich seiner Landsleute und sogar sich selbst nie ganz sicher. So mögen also die Journalisten auf ihre Art Jäger sein, doch sie sind keine Dompteure, und die Deutschen sind keine Raubtiere in Käfighaltung. Trotzdem ist den Reparateuren, den unfreiwilligen Spätverwesern des Nationalsozialismus eines klar: Das deutsche Wesen muss in Schach gehalten werden, seine angemessene Existenzform ist nicht die der unbegrenzten geistigen Freiheit, sondern die des begrenzten Freigangs der Gedanken.
Heute jährt sich die Reichskristallnacht zum 75. Mal – Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der deutschen Juden vor Dieter Graumann, hat ihren Artikel zu diesem schlimmen historischen Ereignis bereits gestern in der Süddeutschen Zeitung abdrucken lassen. Die 81-jährige Charlotte Knobloch erlebte die Kristallnacht als Kind noch mit, das war in München. Doch die Zeitzeugen werden weniger, und ich vermute, dass man im Deutschland des Jahres 2038 die Reichskristallnacht kaum noch registrieren wird, 25 Jahre sind eine lange Zeit.
Wie ein unfassbares Fanal des Schreckens zuckte dieses Judenpogrom damals über Deutschland auf, so grell, dass es in Europa und in der ganzen Welt zu sehen war. Nun wussten alle, aber auch alle Bescheid, nun konnte es keine Zweifel mehr geben über das den Juden bevorstehende Schicksal: Vertreibung und Tod… obwohl man es vorher hätte wissen können, denn schon im Jahr 1935 waren die Nürnberger Rassengesetze verabschiedet worden, die Juden wurden zu Aussätzigen, zu Volksschädlingen, sie wurden offiziell als rassisch minderwertig definiert. Der Begriff Rassenschande war in aller Munde.
Propagandaminister Joseph Goebbels hatte am 23. August 1935 den Bau von Konzentrationslagern öffentlich als einen „Akt nationaler Notwehr“ bezeichnet. Was sollte denn wohl mit den Juden in den Konzentrationslagern passieren? Sie sollten dort umgebracht werden, sie sollten dort ermordet werden: Alle ahnten es, die meisten Deutschen registrierten es in einem stillschweigenden Einverständnis. Nicht nur die Rassenschande war in aller Munde, sondern auch der Begriff des Ausrottens der Juden – keiner, nicht ein einziger der zu dieser Zeit erwachsenen Deutschen konnte später behaupten, er habe davon nichts gewusst, das ist eine unverschämte Lüge, die sich bis heute als Ausflucht in den Köpfen hält.
Was ist bloß aus diesen Deutschen geworden, die zwei Weltkriege anzettelten und verloren, die den ersten industriellen Massenmord aller Zeiten jahrelang eiskalt durchzogen wie Massenschlachtungen bei der Schweinepest oder bei der Vogelgrippe… wie können die Deutschen sich ganze 70 Jahre später schon wieder über Menschen aus anderen Kulturen unterhalten als wären sie der letzte Dreck? Was haben die Deutschen aus dem Holocaust gelernt? Nichts haben sie gelernt, oder nur sehr wenig, sie hielten sich zurück im Nachhall des Grauens, das war ihre Trauerarbeit, sie leisteten materielle Wiedergutmachung, die Schecks waren ihre Tränen. In den Reden vor den Gedenkstätten mahnen die Politiker immer wieder, dass diese dunkle Zeit nie vergessen werden dürfe – und doch wollen alle Deutschen nur eines: die dunkle Zeit vergessen. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, wo ich in den Jahren überall einmal war, in Dachau jedenfalls, in Buchenwald, in Neuengamme, in Bergen-Belsen, auch in Sobibor, und ich ging auch über das weite Gelände von Auschwitz, allein, vielleicht zwei Stunden lang, ich hatte mich keiner Gruppe angeschlossen, ich wollte die Erläuterungen nicht hören, ich weiß noch, dass ich dort fast gar nichts gespürt habe, mein Kopf war ein Fotoapparat, er knipste nur. Später zeigte mir mein Gehirn die Fotos vor, unerwartet und unaufgefordert – fürchterliche, empörende Fotos, weil sie mit meinen Phantasien vermengt waren, sie waren lebendig geworden.
Deutschland ging nach dem Holocaust einfach wieder zur Tagesordnung über, mit dem forschen Wiederaufbau wurde das Entsetzen zugemauert, dann verlor es sich in der Hektik des Aufschwungs. Wo das Entsetzen dennoch regelmäßig wieder auftauchte, da wurde es zunehmend routinert gehandhabt, die Betretenheit stellte sich prompt in den Gesichtern ein, wie auf Knopfdruck, der rhetorische Schwulst wirkte immer eingeübter und lustloser – die vormals gefühlsduseligen, aber ehrlichen Selbstanklagen verödeten zu gefühlsdusseligen Standardritualen. Auf diese Weise wurde die Vergangenheit so lange erledigt, bis sie erledigt war. Dabei hätte Deutschland nach dem Krieg zu einer friedensstiftenden Nation werden können, Deutschland hätte die ihm auferlegte Zäsur annehmen müssen, es hätte sich der Wiederbewaffnung verweigern müssen, es hätte einen blockfreien Sonderweg beschreiten müssen und sich nicht als Domestik der Amerikaner vereinnahmen lassen dürfen. Inzwischen hat Deutschland fast alle Möglichkeiten verspielt, eine selbständige Friedenspolitik politisch zu gestalten, es ist gefangen in einer Vielzahl von bilateralen und internationalen Verträgen, Strukturen und Institutionen – die Freiräume werden immer kleiner, siehe Energie-, Wirtschafts- und Außenpolitik. Aber Deutschland braucht eine neue Ausrichtung in die Zukunft, eine eigene, sonst wird es innerhalb der Europäischen Gemeinschaft aufgerieben, und zurück bleibt nur ein undefinierbarer quasi-staatlicher Torso.
„Alarmstufe schwarzrotgold“ könnte zum gefügelten Wort werden.
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