„So, Herr Koslowski – wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ich habe ein Problem, Herr Professor. Ich bin verrückt.“
„Aha. Wie äußert sich denn das?“
„Ich hasse rechte Winkel, sie machen mich verrückt.“
„Hmh…“ Der Professor hält ihm ein Blatt Schreibmaschinenpapier direkt vor die Nase. „Was halten sie davon?“
Koslowski zuckt entsetzt zurück: „Ekelhaft! Legen sie es wieder hin.“
„Ja, ja… ja, natürlich. Sie mögen die Ecken nicht?“
„Ich schneide sie rund“, sagt Koslowski kleinlaut. „Deshalb bin ich ja auch rausgeflogen.“
„Rausgeflogen? Wo denn?“
„Bei einem Ingenieurbüro. Ich war da als Aushilfe, ich musste die Post entgegennehmen. Die Briefumschläge hab ich zerknüllt, und die Schreiben selbst hab’ ich – na ja, beschnitten.“
„Rund?“
„Nicht direkt, nur an jeder Ecke ein Flitschel abgeschnitten, nur ein bisschen. Dann waren die rechten Winkel weg… der Chef hat’s gemerkt.“
Der Professor lehnt sich in seinem ledernen Chefsessel zurück, er wippt ein bisschen hin und her, er betrachtet Koslowski nachdenklich. „Wie können Sie überhaupt zurechtkommen, Herr Koslowski? Ich meine, es sind doch so viele Dinge, äh… rechtwinklig.“
„Genau. Deshalb bin ja hier.“
„Seit wann haben Sie das Problem?“
„Schon länger. Ich war für Architektur eingeschrieben. Der Dozent hatte den Grundriss einer Maschine an die Tafel gemalt. Ich bin nach vorne und hab’ die Ecken abgerundet.“
„Und dann?“
„Der wollte mich abführen lassen… aber ich bin freiwillig gegangen, hatte keinen Zweck mehr.“
„Verstehe.“
Koslowski fühlt, dass der Professor nicht weiter weiß, er fragt ihn: „Wussten Sie eigentlich, dass kein Haus gerade steht?“
„Nein – wieso das?“
„Wenn Sie ein Haus von vorn ansehen, die beiden Seitenwände – wenn die Verlängerung der einen durch den Erdmittelpunkt geht, schießt die andere daran vorbei. Weil die Wände parallel sind!“ Koslowski lacht hektisch, zieht eine Grimasse und fährt sich wild mit den Fingern durchs Haar.
„Wie bitte?“
„Das Haus steht schief!“, triumphiert Koslowski lauthals.
„Aber… aber es gibt doch Wasserwaagen.“
„Na und?“ Koslowski steht mit einem Ruck auf, stemmt beide Hände auf den Schreibtisch, er lehnt sich weiter vor, bis er mit dem Professor direkt Auge in Auge ist, er herrscht ihn an: „Nur auf einer gedachten Tangente würde es gerade stehen!“
„Beruhigen Sie sich, Herr Koslowski, so beruhigen Sie sich doch! Setzen Sie sich bitte wieder hin.“ Der Professor betastet mit der flachen Hand seine Stirn, er atmet tief, er wartet, bevor er weiterspricht – aber dann schreit er plötzlich zurück: „Das ist reine Theorie, Koslowski! Mein Gott nochmal… da geht’s um Stellenwerte hinterm Komma, die kann man in der Realität vergessen.“
„Auch Parallelität ist eine Ausgeburt des 90-Grad-Winkels, ein Sklave des Lots. Der 90-Grad-Winkel ist nicht recht, sondern teuflisch. Er ist wider die Natur, und trotzdem, die Menschen vergöttern ihn. Man sieht es überall.“
„Wissen Sie, was ich glaube?“ Der Professor ist rot geworden, er hat sich noch nicht wieder beruhigt. „Ich glaube, Sie wollen sich nur wichtig machen, Koslowski. Wenn rechte Winkel Sie wirklich so sehr stören, dann könnten Sie doch nicht mal gelassen aus dem Fenster schauen – sowas gibt’s doch gar nicht!“
„Stimmt, ich muss mich immer zusammenreißen. Wenn ich nicht in der Wohnung bin, muss ich mich ständig zusammenreißen. Lange halte ich das nicht mehr aus: rechteckige Bücher, Monitore, Häuser. Am schlimmsten sind die verdammten Hochhäuser, mir wird schwarz vor Augen, wenn ich länger hingucke.“
Nun ist auch der Professor hinter seinem Schreibtisch hochgeschnellt und beugt sich drohend zu Koslowski hinüber, er stellt noch eine letzte Frage, mit einem lauernden Unterton in der Stimme: „Wie können Sie sich denn in ihrer Wohnung wohlfühlen? Da gibt’s schließlich auch Türen, Fenster, Schränke und so weiter… ich will das jetzt von Ihnen wissen, Koslowski!“
„Die Türen stehen längst im Keller. Die Rahmen habe ich mit Pappmaché bearbeitet. Und die Fensterrahmen waren kein Thema, einfach ein paar Stoffbahnen drüberhängen, fertig. Nur mit den Wandecken hat’s gedauert, ich habe Unmengen Styropor zurechtgeschnitten – es gibt nämlich Außen- und Innenecken… Herr Professor?“
„Ja…?“ Der Professor stiert ins Leere, er wirkt plötzlich müde, er winkt mit einer fast unmerklichen Handbewegung ab.
„Haben Sie sich schon einmal in aller Ruhe ein rundes Waschbecken angeschaut? Oder eine Kloschüssel? Oder eine Frau? Ist doch wunderschön, oder?“
Koslowski sitzt mit verschränkten Armen da. Der Professor schaut seinen neuen Patienten forschend an. „Ich schreibe ihnen ein Beruhigungsmittel auf, Koslowski. Und in einer Woche kommen Sie wieder, und dann, äh… dann runden wir ihr Problem ab.“
Also sein kleiner Tick tut ja nicht weh, aber gut, dass er den Job im Ingenieurbüro geschmissen hat 🙂
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Der Herr Professor rafft da was nicht …
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