Was uns so umtreibt – der Gelderwerb, die Familie, die Gesundheit, der soziale Status, das Auto und wohin die Reise gehen soll. Aber wohin soll unsere Reise gehen? – unsere gemeinsame Reise, über Mallorca, Manhattan und die Malediven hinaus. Wohin gehen wir zusammen? Das wissen wir nicht, die Zukunft wird es zeigen… natürlich wird sie es zeigen, welch ein dummer Satz, überflüssig. Oder auch nicht, denn er vermittelt uns eine gewisse Autorität der Zukunft, eine Kompetenz in dem Sinne, dass sie uns schon zeigen wird, wo es langgeht. Bloß – die Zukunft ist nicht weise, sie ist teilnahmslos, sie bildet die eine von den zwei Achsen unseres existenziellen Koordinatensystems, dessen Nullpunkt sich mit dem Lebensablauf unaufhaltsam weiter nach rechts verschiebt. Wir bleiben immer auf dem Nullpunkt Gegenwart, deshalb ist die Gegenwart übermächtig.
Das was im allgemeinen auf uns zukommen wird, das interessiert uns weniger, im Gegensatz zu dem, was konkret mit uns passieren wird, vor allem beschäftigt uns, wann wir sterben. Mit dem Tod ist unsere Zukunft vorbei – dass man diese Aussage bezweifeln kann, soll hier nicht thematisiert werden. Es gibt zwei Arten von Zukunft, die persönliche und die kollektive. Die kollektive Zukunft bleibt bisher ein Schattenphänomen, obwohl man ihr mit der Futurologie eine eigene Wissenschaft zugewiesen hat. Doch auch diese Wissenschaft führt ein Schattendasein, sie hat keinen guten Ruf, weil die Zukunft unbeliebt ist und weil das Metier der Futurologie notwendigerweise Szenarien und Spekulationen sind, mehr oder weniger fundierte. Es gibt nur zwei von den Staaten getragene internationale Organisationen, die unsere Zukunft untersuchen – das auch nur versteckt in ihren Unterabteilungen: die UN, die Vereinten Nationen, und die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Diese beiden Institutionen sollen also die Auseinandersetzung mit der Zukunft global abdecken… ist das eine überzeugende Perspektive? Nein, so wird nur mühsam überdeckt, dass man sich der Auseinandersetzung verweigert.
Aber wenigstens stellen die Regierungen detaillierte Pläne für die nähere Zukunft auf, zum Beispiel hinsichtlich der Alterspyramide und ihrer finanziellen Folgen – die Mathematiker betreiben dort hauptsächlich Rentenrechnung, was nicht bedeutet, dass sie nur Renten berechnen würden, Rentenrechnung ist ein eigener Zweig der Mathematik, den man auch als limitierte Zukunftsrechnung bezeichnen könnte, man kann über komplizierte Folgen und Reihen alle möglichen Entwicklungen hochrechnen, solange ihnen in der Masse einigermaßen kontinuierliche Abläufe zugrunde liegen, etwa die Sterberate in der Bevölkerung oder die Zunahme des Autoverkehrs. Solche Berechnungen sind jedoch trügerisch, nicht nur weil die Annahmen mit immer größeren Unsicherheitsfaktoren behaftet sind je weiter sie zeitlich nach vorne reichen – nein, viel bedenklicher ist das verbreitete Bewusstsein, dass letzten Endes fast alles berechenbar wäre. Die vermeintliche Berechenbarkeit der meisten Gesellschaftsprozesse erweist sich als Erkenntnisfalle. Dieses Bewusstsein wiegt die Menschen in einer gefährlichen Sicherheit, nicht nur weil auf diese Weise Gefährdungspotentiale suggestiv verharmlost werden, sondern auch weil die nicht berechenbaren vernachlässigt und sogar ausgeblendet werden, wie die gefühlten Lebensumstände der Menschen oder der kulturelle Status einer Gesellschaft.
Mit der kollektiven Zukunft ist das so eine Sache. Die Zukunft reicht nicht weit, die Zukunft endet in 50 Jahren. Danach kommt nur Nebel, alles was danach kommt, das hat keinen Stellenwert mehr. Die Menschheit muss dringend zum Augenarzt, denn ihre Kurzsichtigkeit droht in Blindheit überzugehen, man erkennt es daran, wie orientierungslos sie schon heute auf ihrem kleinen Globus herumwuselt. Es geht mir hier nicht um die Umweltzerstörung, nicht um den Klimawandel, nicht um den wachsenden Bevölkerungsdruck und auch nicht um den Turbo-Kapitalismus – es geht mir um grundlegende Veränderungen in unserer kollektiven Zukunftswahrnehmung – ich glaube, sie allein können das von vielen Menschen herbeigesehnte Sesam-öffne-dich bewirken, das uns endlich in den Stand versetzt, die oben aufgezählten Probleme in den Griff zu bekommen. Wir brauchen nichts dringender als eine Zukunftskultur. In eine solche Kultur einzutreten, wäre mehr als irgendein gesellschaftspolitischer Paradigmenwechsel, es wäre eine fundamentale Neuausrichtung der Menschheit. Ich bin mir sicher, dass sie sich auch verwirklichen lässt, wenn man es nur will.
Was lehrt uns der Blick in die Geschichte? Er offenbart für mich im Wesentlichen die deprimierende Fehlerhaftigkeit unserer bisherigen gemeinsamen Existenz, ein abscheulicher Anblick – aus der Geschichte können wir vor allem lernen, dass wir sie nun hinter uns lassen müssen, wir müssen unseren Blick von ihr abwenden und entschlossen nach vorne schauen. Es reicht zu wissen, wie unendlich grausam und wie menschenfeindlich die geschriebene Geschichte ist. Die Historiker werden dann zu einer Art von Geschichtssoziologen, die sich mit wenig erbaulichen Vorstufen einer menschengerechten Zivilisation beschäftigen.
Alles geht immer nur in eine Richtung: nach vorn. Was haben wir dafür parat? Nicht mehr als vage Szenarios, die ökonomisch orientierte Schwerpunkte setzen und die höchstens ein paar Jahrzehnte vorausschauen, mit zumeist fraglichen, weil interessegeleiteten Ergebnissen. Die Wissenschaftler rechnen und rechnen und rechnen… doch mit Hochleistungscomputern kann man nicht die Zukunft gewinnen, es sind Krücken auf einem ungewissen Weg ins Nirgendwo – für die Zukunft brauchen wir einen roten Faden, neue Ideen und andere Konzepte des Zusammenlebens, wir müssen die Zukunft ins Auge fassen, um ihr einen Sinn zu geben. Die Zukunft gewinnen kann allein der visionäre Mensch. Er muss sich von seinem pseudo-existenziellen Ballast befreien und grundlegend umdenken.
Der 83-jährige Amerikaner Immanuel Wallerstein ist ein bedeutender Futurologe. Wallerstein hat über lange Zeit eine Weltsystemanalyse entwickelt, die unter anderem den Niedergang der amerikanischen Welthegenomie seit 1990 konstatiert – ob sich dieser Niedergang tatsächlich vollzieht, erscheint ein Vierteljahrhundert danach eher fraglich, darüber kann man streiten, und was danach kommt, das weiß Wallerstein auch nicht, auch er macht mit der Zukunft in 50 Jahren Schluss. Und dann gibt es da noch die berühmten Kondratieff-Zyklen, wir befinden uns angeblich im sechsten Zyklus, in dem die Gesundheit eine große Rolle spielt… aber was soll man ernsthaft damit anfangen? Was soll man, auch ohne jeden Defätismus, anfangen mit der „World Future Society“ und mit der „World Future Studies Federation?“ – beide sind Privatorganisationen, bei denen man gegen Gebühr Mitglied werden kann, und wenn man einige der von ihnen angebotenen Beiträge liest, dann fragt man sich irgendwann unwillkürlich, wo eigentlich die Zukunft bleibt. So geht es nicht. Die Staaten, die Regierungen, die Politiker und die großen Entscheider müssen sich der Zukunft stellen, die NGOs und die Wissenschaften können eine grundlegende Trendwende allenfalls unterstützend flankieren. Die Weltlage kann sich nur entscheidend verbessern, wenn alle zusammen engagiert über die Zukunft nachdenken, auch über die mittelfristige hinaus, also über die nach menschlichen Dimensionen fernere Zukunft – die Zukunft darf nicht länger ignoriert werden.
Das Problem mit der zukunft ist doch, dass uns die Zuversicht abhanden gekommen ist, dass wir und unsere Nachkommen besser leben werden als wir selbst heute. Deshalb der massenhafte und krampfhafte Versuch, am Status quo festzuhalten. Wenn die Zukunftsausscihten günstiger wären, würden sich die Leute auch mit der Zukunft beschäftigen.
An die schönen Visionen von Politik und Wissenschaft glaubt doch längst keiner mehr. Ich persönlich glaube daran, dass es Sinn macht, in einer Nische des Weltgeists zu überwintern, zwischendurch mal ein Apfelbäumchen zu pflanzen und zuzuwarten, dass bessere, zukunftsträchtige Zeiten kommen.
LikeLike
Das ist mir zu allgemein. Futuristen aus verschiedenen Disziplinen haben mehre posthumana Zukunftsszenarien entwickelt.
LikeLike
Es gibt keine gute Welt, wie soll sie besser werden ?
LikeLike