Es gibt sehr kluge Betrachtungen zur Lyrik, ich habe einmal einen mitreißenden Vortrag von Rilke darüber gelesen, der leider so lang war, dass ich darüber einschlief – so viele tiefe Einsichten in seine Kunst hatte der berühmte Dichter mitzuteilen. Auch heute ist es für einen renommierten Literaturwissenschaftler praktisch unumgänglich, sich bedeutsam über die Lyrik zu äußern, was mich als Laie immer wieder davor zurückzucken lässt, denn man will sich schließlich nicht lächerlich machen. Auf der anderen Seite kann ich in meinem Blog schreiben was ich will, niemand kann mich daran hindern, und nun ist es soweit: Also, die Lyrik… nein, ich habe etwas vergessen, zuerst muss ich auf den Klang eingehen, auf die Anmutung dieses Begriffs – allein das „y“ an zweiter Stelle verleiht dem kurzen Wort etwas Faszinierendes, die meisten Worte mit „y“ haben irgendwie etwas Besonderes, fast etwas Distanzgebietendes an sich, man denke nur an Xylophon, Libyen, Ypern oder Ypsilanti. Was ist dagegen schon Dichtung? Ein verwirrender Begriff, fatal mehrfach belegt, weil man damit auch eine Wasserrohrzange verbinden kann, und selbst wenn man es nicht tut, vermittelt mir jedenfalls „Dichtung“ eher eine verstaubte Vorstellung von Reimgedichten, von Balladen und von sprachlich überkommenem Schwulst. Dann wäre da noch die Poesie, zu der mir notorisch das Poesie-Album meiner Mutter einfällt, auch bei „poetisch“ habe ich ein mulmiges Gefühl, und Poetik ist für mich die antike Lehre von der Dichtkunst.
Also, die Lyrik… es gibt verschiedene Definitionen von Lyrik, mir begegnet sie häufig auch als eine Art von feinsinniger Prostitution, nicht Sprache in Strapsen, aber das Erwecken von Begehrlichkeit durch Sprache – Dichter betreiben gerne Mimikry, sie wollen eigentlich nichts mitteilen außer dem Publikum sich selbst, vorzugsweise in ihrer lyrisch verklausulierten und ästhetisierten Verzweiflung vor der Welt – der Dichter bietet sich an, er kehrt Intimes nach außen und bietet es dem Leser feil. Auch wenn Lyrik heutzutage beliebig geworden zu sein scheint, so ist sie doch meistens eine Form der persönlichen Entäußerung, allerdings nicht zwingend im Sinne von Hegel, der sich mit der Entäußerung näher beschäftigte und darin das Walten des Weltgeistes zu erkennen glaubte. Mit Lyrik kann sich der Mensch hochstufen, er bemächtigt sich der Kunst im Handumdrehen, unabhängig davon, ob er selbst Gedichte schreibt oder sie nur interessiert liest, es ist eine Frage des Gefühls.
Seitdem die Kunst zu einem fast konturlosen Wegwerf-Begriff wurde, dient sie als anspruchsheischender Platzhalter für alle möglichen Aktivitäten – davor blieb auch die Sprachkunst nicht verschont. Wer die Lyrik-Szene der Gegenwart ein bisschen mitverfolgt, dem müsste auffallen, wie alle Maßstäbe scheinbar zu einem Nichts aufweichen, es gibt keine Unterscheidungsmerkmale mehr für gute oder weniger gute Lyrik, die Lyrik-Preise schießen wie Pilze aus dem Boden – Städte, Kleinstädte, Provinzen, private Interessengemeinschaften und Verbände loben zumeist bescheiden dotierte Lyrik-Preise aus, außerdem wiederkehrende, darunter auch suspekte Wettbewerbe, die von den zahlreichen Autoren abgeklappert werden wie Flohmärkte. Beliebt und begehrt sind auch einschlägige Stipendien, in der Regel zeitlich begrenzte Aufenthalts- und Versorgungsstipendien… wer einmal in den Genuss des Privilegs kam, im kulturellen Highlight Villa Massimo weilen zu dürfen, der hat den Persilschein als anerkannter Künstler sicher… jedenfalls in seiner Einbildung, der Wahn kann auch schnell wieder in sich zusammenfallen.
Wer beschließt eigentlich, was kunstvolle und gelungene Lyrik ist? – wer entscheidet über ihren Wert, und über ihren Wert für wen oder was? Die Jurys, die Juroren und die Jurorinnen. Dabei handelt es sich vorzugsweise um Schriftsteller und bekannte Träger des regionalen Kulturbetriebs, die häufig mit einem fiebrigen Sendungsbewusstsein für ihr künstlerisches Urteilsvermögen ausgestattet sind, das gleichwohl ebenso häufig nur ungenügend vorliegt, wenn überhaupt, und auch Versicherungsdirektoren oder Inhaber von Autohäusern gehören schon mal zur Jury. Diese Praxis führt dazu, dass man angesichts der gewürdigten Preisträger, das heißt angesichts ihrer Werke, immer wieder ins Grübeln verfällt, denn neben durchaus eindrucksvollen Lyrikern werden nicht selten auch solche geehrt, deren offensichtlicher Dilettantismus schon fast schmerzhaft ins Auge sticht. Ein weiteres Phänomen stimmt mich bedenklich: Lyrik verkommt zunehmend zu Performance von Lyrik, der Vortrag dominiert tendenziell den Inhalt. Ich bin ein großer Fan von Poetry-Slam, aber Poetry-Slam ist eine besondere, eine moderne Gattung der Unterhaltung mit Sprachkunst, in keiner Weise abwertend zu verstehen – die Poetry-Slammer verstehen sich selbst als Gebrauchslyriker, und nicht als Autoren, die nächtelang an wenigen Zeilen arbeiten und über jeder Nuance eines Wortklanges oder über einer kleinen Veränderung im Rhythmus sinnieren. Diese Art von einer sich auch durch handwerkliche Sorgfalt auszeichnenden Lyrik ist etwas anderes, sie ist nicht per se konservativ, schon gar nicht pauschal höherwertiger – es kommt immer entscheidend auf den Autor an, auf seine sprachliche Ausdruckskraft, auf die Virtuosität seiner Phantasie, auf die Intensität des dichterischen Anliegens.
Das Interesse an Lyrik ist enorm angewachsen, nur glaube ich, dass der Schein trügt. Die entfesselte Dichtwut, die im Grunde zu begrüßen ist, lässt das Gedicht aber zu einem Acessoire der persönlichen Selbstdarstellung werden, zu einem Modeschmuck, zu einer flüchtig hingeworfenen Visitenkarte – hierunter leidet die zeitgenössische Lyrik viel mehr als unter der Auflösung der formalen Anforderungen an sie. Rhythmisch flüssige Reime sind für viele Menschen immer noch der Standard, den sie von einem Gedicht erwarten, dieser Standard hat sich längst überholt. Feste Formen wie Elegien, Oden, Sonette oder auch Haikus führen inzwischen eine Nischenexistenz, doch das ist nicht der ausschlaggebende Grund für den gefühlten Niedergang der Lyrik, entscheidender sind diese beiden Gründe: Erstens hat die Wertschätzung von Gedichten dramatisch abgenommen, sie war in früheren Jahren ausgeprägter und selbstverständlicher, und zweitens ist die Lesefreude der Menschen generell stark zurückgegangen, die Ursachen sind bekannt – wenn man dazu noch berücksichtigt, dass Lyrik eine spezielle Art von Lektüre darstellt, dann offenbart sich das eklatante Missverhältnis, von dem die Gegenwartslyrik schier erdrückt wird: Unmengen von Lyrik werden produziert, doch nur ganz geringe Mengen werden konsumiert, also gelesen. Ohne Lesen kann es keine Literatur geben, ohne Lesen wird die Lyrik zu einer Farce, zu einer Art Polo-Spiel für eine kleine selbsternannte Elite, die sich zu allem Überfluss noch in ihrem elitären Selbstbewusstsein überhöhen möchte. Auch das Verlagswesen, das die Literatur gnadenlos kommerzialisiert, spielt hier eine unrühmliche Rolle.
Unter diesen Umständen hat die Lyrik in Deutschland keine Zukunft, sie wird marginalisiert durch Massenhaftigkeit, durch fehlende Aufmerksamkeit, durch einen wenig pfleglichen Umgang mit ihr, durch unattraktive bis sogar kontraproduktive Vermittlung von Lyrik im Deutschunterricht, Lyrik als reiner Frust für die Schüler und Schülerinnen, und ihr wird nahezu der Rest gegeben durch eine Egal-Haltung, die an heimliche Verachtung grenzt – die Dichterei ist und bleibt in ihrem Ansehen eine verstiegene Passion, eine brotlose Kunst, und brotlose Künste sind in dieser Gesellschaft nicht mehr gefragt. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Lyrik am Ende ist und man es nur nicht wahrhaben will.
Ein pessimistischer, aber zumindest in weiten Teilen wohl berechtigter Ausblick.
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In meinen jüngeren Jahren habe ich jeden neueren Lyrikband der edition suhrkamp als einer der Ersten erworben, egal ob von Enzensberger, Krolow oder Eich. Das mag heute anders geworden sein, aber es gibt inzwischen viel mehr – auch gute – Lyrik im Web als früher gedruckt wurde.
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Lyrik war schon immer brotlose Kunst. Aber glücklicherweise lebt der etwas feinsinngere Mensch nicht nur vom Brot allein. Lyrik wird es weiter geben.
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Es gibt wunderbare Lyrik. Ich denke da gerade zum Beispiel an ein Liebesgedicht von Mascha Kalécko.
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