Die Zeit ist da, die Zeit ist immer da. Viel mehr Definitives lässt sich über die Zeit nicht sagen, deshalb könnte ich an dieser Stelle eigentlich schon Schluss machen. Doch der Mensch spekuliert gerne, und ich möchte aus dieser Neigung heraus noch einmal darauf aufmerksam machen, dass man die Zeit nicht erklären kann indem man sie misst. Uhren sind tickende Begleiter der Zeit, sie sind flüchtige Abtaster ihrer Peripherie. Messen kann man nur die Dauer von Abläufen, die Zeit dagegen ist unermesslich, sie hat keinen Anfang und kein Ende, sie besitzt keine Eigenschaften außer der, dass sie zu vergehen scheint – eine trügerische Aussage, denn die Zeit vergeht natürlich nicht, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass sie abnimmt oder irgendwann aufhört, und schon gar nicht beschreibt die Zeit einen Niedergang. Ihr Weg kann weder von oben nach unten führen noch einen Bogen darstellen oder eine Kurve sein, die als Funktion deutbar wäre. Eine Funktion von was auch?

Die Zeit hat keine Funktion – hätte sie eine Funktion, zum Beispiel die, den Rahmen aller Abläufe zu bilden, dann wäre das eine absurde Einschränkung. Die Zeit kann kein Rahmen sein, sie ist notwendigerweise Substanz, wenn auch mit einer für den Menschen rätselhaften Beschaffenheit. Alles gründet sich auf der Zeit, sie steht an der Spitze einer alles umfassenden Hierarchie. Von der Zeit geht alles aus, von ihr führt alles weg. Deshalb kann die Zeit von nichts abhängig sein, denn jedes Sein ist von ihr abhängig – deshalb muss sich auch die Zeit nach nichts ausrichten, denn jedwede Existenz richtet sich umgekehrt nach ihr aus. Irgendein Ziel strebt die Zeit nicht an, sie muss keine Aufgabe bewältigen, sie ist eine Erscheinung ohne Zustand und Bedingung, immer und überall, keinem Ort zuzuordnen, keiner Gesetzmäßigkeit unterworfen, in keiner Hinsicht festzulegen. Es muss seinen Grund haben, dass der Mensch keinerlei Möglichkeiten besitzt, der Zeit durch die Macht seines Begreifens habhaft zu werden, er bleibt vor ihr ohnmächtig. Was dem Menschen bleibt, ist seine Spiritualität – wahrscheinlich wurde ihm damit mehr als genug beschieden.

Mehr ungewollt hat die moderne Naturwissenschaft durch die Allgemeine Relativitätstheorie den Substanzcharakter der Zeit nachgewiesen. Die Substanz der Zeit gleicht jedoch in keiner Weise der Substanz, die als Materie vorliegt und mit der sich unsere vorherrschende Vorstellung von Substanz verbindet. Wie aber bringt es die Zeit zustande, ihre eigene, also die Ursprungssubstanz in eine ihr nachfolgende Substanz, nämlich in die Materie zu überführen? Es gelingt mit Hilfe der Gravitation – sie stellt eine Ausformung der Zeit dar, die uns darum ebenso unverständlich bleiben muss wie die Zeit selbst. Die Gravitation bildet den entscheidenden Schlüssel der Zeit, mit dem sie die Tür zur universellen materiellen Existenz allen Seins öffnete. Ohne Gravitation kann es keine Materie geben. Zwingende Voraussetzungen für die Existenz von Materie sind Gravitation und Energie – zwingende Voraussetzungen für Energie wiederum sind Bewegung und Dynamik. Energie kann als bewegungsloses Potential vorhanden sein, doch sie konstituiert sich in ihrer Wirkung, und Wirkungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie ablaufen – ohne diese Abläufe gäbe es auch keine Entropie. Mit der Entdeckung von Lichtgeschwindigkeit und Zeitdilatation, vornehmlich mit den sich daraus ergebenden Folgerungen verbanden sich Zeit, Energie und Materie miteinander, sie verschmolzen zu einer rätselhaften Entität, aus menschlicher Sicht zu einer Supra-Existenz, in der die Zeit von der Materie direkt Besitz ergreift – die Zeit wird so auch naturwissenschaftlich nicht nur zu einem Bestandteil von Materie, sondern zu ihrem Ursprung.

Die Zeit regiert, sie ist die Königin, in ihr zeigt sich das Göttliche – zumindest für diejenigen, die an etwas Göttliches glauben. Für sie wäre die Zeit Gott. Dann hat die königliche Zeitgöttin den Raum erzeugt, das Vakuum geboren, dann hat sie die Energie in die Welt gesetzt, mit ihrer spezifischen Erscheinungsform, der Materie, die den Menschen hervorbrachte. Wenn die Menschen nicht so sinnverarmt durch ihr Leben irren würden, könnten sie in diesem Wissen eigentlich beruhigt sein: Die moderne Physik bringt ihnen die Bestätigung, dass der Mensch nicht nur mit der Zeit lebt, sondern dass er ein Teil von ihr ist. In jedem Wesen manifestiert sich die Zeit, bei Gefallen auch das Göttliche, auf eine besondere Art, es manifestiert sich immer substantiell und damit essentiell. Alles was wir denken, alles was wir uns vorstellen hat seine Zeit, und auf wunderbare Weise tragen wir die Königin in uns, unsere eigene Zeit in unserer individuellen Existenz. Wir alle sind Zeit. Wir alle, auch die jungen Menschen, sind sehr alt im Kern unseres Wesens – viel, viel älter als die Milchstraße. Denn die Zeit hat kein Alter. Wir bestehen aus der Zeit, die schon vor Äonen da war so wie jetzt, die Universen schuf, die auch dieses Universum entstehen ließ und es wieder vergehen lassen wird. Für die Königin Zeit bedeutet die Lebensdauer unserer Heimatgalaxis mit der Sonne und der Erde nicht mehr als ein Wimpernschlag, sie bringt alles hervor, sie strukturiert, sie limitiert, sie vernichtet – nur sie selbst ist ewig, nur die königliche Zeitgöttin thront über allem im Unvergänglichen, das sie darstellt. Aus diesem Grund können wir die Zeit nicht und niemals verstehen, wie sollten wir auch?… was maßen wir uns an?

Vor diesen Ausblicken nimmt sich die Gegenwart bitter enttäuschend aus. Denn gegenüber den philosophischen Zeittheorien, die in der Vergangenheit entwickelt wurden, erzeugen die Naturwissenschaften heute nur noch mehr Verwirrung über die Zeit. Als Fazit verkümmert die Zeit für den sogenannten modernen Menschen zu einer ermüdenden Dauer-Agenda, an deren Ende er samt seiner kümmerlichen Agenda entsorgt wird. Währenddessen arbeiten sich die Wissenschaftler erfolglos an der Zeit ab. Immer genauere Messungen der Zeit werden vorgenommen – doch indem das mit großem physikalisch-technischen Aufwand versucht wird, kommt man dem Wesen der Zeit nicht um einen Deut näher. Es verhält sich sogar umgekehrt: Das ganze Brimborium um noch mehr Genauigkeit entfremdet den Menschen noch mehr von der Zeit – was hat seine persönliche Lebensspanne mit den milliardenfachen Schwingungen von Elektronen in einem Cäsium-Atom zu tun? Nichts, nicht in seiner menschlichen Erfahrung, sie allein ist das alles Entscheidende.

Die Zeit als vierte Dimension, bitte… bloß erklärt das nichts – auch nicht der berühmte Minkowski-Raum, der Minkowski-Raum eröffnet ein unlösbares Rätsel – auch nicht das Kernforschungszentrum CERN, wo man die Materie und die Zeit mit ungeheuren Energien praktisch auflösen will, mit dem notorischen Ergebnis, nach den Experimenten wieder über unbegreiflichen Erkenntnissen zu brüten. Die Phsyik muss vor dem Phänomen Zeit am Ende schlicht passen, deshalb ist sie darauf angewiesen, um diesen aus ihrer Sicht deprimierenden Sachverhalt herum ständig neue Paravents aus kompliziertesten Theorien aufzustellen. So bleiben die hochintelligenten Physiker gefangen in der Zwingburg ihrer Hypothesen, sie werden Opfer ihres selbst angerichteten Chaos, in das sie die zeitgemäße Verabsolutierung der Naturwissenschaften hineingeführt hat, sie wollen sich mit Komplexität vor der Realität schützen, sie wollen die grandiose Schöpfung bagatellisieren, sie vergreifen sich damit, ohne es zu wissen, am Existenzkern des Menschen. Alle ihre kryptischen mathematischen Abstraktionen ins Grenzenlose etablieren eine Art Ersatzreligion in der spröden Umfangung einer pseudowissenschaftlichen Zwischenwelt, die trotz gelegentlicher Werbeaktionen nicht überzeugen kann, weil die Realität glücklicherweise eine menschliche bleibt.

Augustinus, der Kirchenlehrer und große Theoretiker der Spätantike, trennte als erster die Zeit von Gott. Nach seiner Auffassung steht Gott über allem, er schuf mit dem Universum, also mit dem Menschen, auch die Zeit – Gott warf den Menschen in die Zeit hinein und damit in den existenziellen Notstand seiner Endlichkeit. Zeit war für Augustinus die einzige Grundlage, auf der die Menschen die Zerrissenheit ihrer Seele erfahren und Gnade suchen können. Augustinus glaubte den umfassenden Sinn der Zeit im Erleben der Seele zu erkennen – die Seele offenbart sich vermittels der Zeit. Darüber könnte man diskutieren, es gibt auch andere Möglichkeiten, sich dem transzendentalen Wesen der Zeit inspirierend anzunähern. Aber selbst aus heutiger Perspektive wäre dieses Beispiel für mich eine schlüssigere Herangehensweise, um sich von der Zeit ein menschengerechtes Bild im Verständnis einer Leitgegebenheit zu machen als mit Hilfe von noch so ausgeklügelten Apparaturen oder bis ins Extrem getriebenen Teilchenbeschleunigern.

Heute im technischen Zeitalter werden solche Überlegungen verachtet, man hält sie für obskur: Gott, Seele, Gnade – das alles gilt mehr oder weniger als Hokuspokus. Doch selbst in dieser kalten Gegenwart bleibt die Zeit ein unvergleichliches Faszinosum. Das Dasein des Menschen ist begrenzt, niemand entkommt dem Ablauf des biologischen Lebensbogens. Eines sollte man wissen: Mit jedem Menschen wird auch die Ahnung neu geboren, dass man sich durch den Glauben über diesen Ablauf erheben kann. Das setzt allerdings voraus, auch glauben zu können – eine Herausforderung, der sich viele moderne Menschen nicht mehr stellen, vor allem deshalb nicht, weil die historisch gewachsenen Religionen abstoßend auf sie wirken. Was es bedeutet, sich mit dem Glauben über seine beschränkte Existenz zu erheben, das macht jeder mit sich selbst aus, und das ist auch gut so. Religiöse Erlösungsszenarien sind nicht vorgeschrieben, Ritualen muss man nicht anhängen. Es kann erfüllend genug sein, seinen eigenen Vorstellungen fest zu vertrauen, die über den Tod hinausgehen. Ich fühle mich aufgehoben in dem Bewusstsein und in der Gewissheit, ein Teil der Zeit zu sein. Die Zeit ist unsterblich, also bin auch ich unsterblich. Wie schön. Mehr Geborgenheit kann der Mensch nicht verlangen.

Abschließend möchte ich der Zeit zu nahe treten und ihr spekulativ doch eine mögliche Eigenschaft zuweisen – die Eigenschaft eines Sammelbeckens, in dem sich alle Identitäten immer wieder zusammenfinden, die menschlichen selbstverständlich eingeschlossen. Bildet die Zeit vielleicht nicht nur Grund und Zentrum aller Existenz, sondern dazu auch noch den letzten Fluchtort für die im Menschen als Identität generierte Existenz-Einordnung? Die Zeit als letzte Zuflucht, eine Idee, ein verlockender Gedanke, der konsequent weitergedacht auch unsere persönliche Identität unsterblich machen würde, ohne dass es eines sie gnädig errettenden Gottes und der Seelenwanderung bedürfte. Der Gedankengang führt sogar noch zu einer weiteren, für den sinnsuchenden Menschen überraschend komfortablen Aussicht: Die eigene Identität würde, wenn auch nur als verschwindend kleine Komponente, mit dem Tod wieder in die Über-Identität Zeit einfließen – woraus sich ergibt, dass unser noch so kleiner Identitätsbruchteil dennoch die Gesamtidentität mit repräsentiert und sie so mit charakterisiert.

Natürlich führen solche Überlegungen zwangsläufig zur EPR-Brücke (Einstein-Podolski-Rosen-Paradoxon) und zu deren mannigfaltigen Deutungen, besonders in der Esoterik. Einsteins „spukhafte Fernwirkung“ der instantanen Rückbildung originärer Spin-Zustände über unendliche Entfernungen ist und bleibt ein Tiefschlag für die Naturwissenschaftler, weil er ihrem Weltbild, das alles als rational erklärbar postuliert, die Grundlage entzieht, unwiederbringlich. Auch fast 80 Jahre nach Formulierung der EPR-Brücke gelang es nicht, sie zu beschädigen oder gar einzureißen. Im Gegenteil, aktuelle Experimente bei CERN (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire) bestätigen, dass wenn ein Teilchen hier, also jetzt an dieser Stelle umschaltet, ein ihm örtlich und funktional ursprünglich zugeordnetes Teilchen in vielleicht hunderttausend Lichtjahren Entfernung exakt gleichzeitig umschaltet – das ist eine faszinierende Erkenntnis, es ist eine Offenbarung, nichts weniger. Doch bis heute werden die naheliegenden Schlussfolgerungen aus dieser Menschheitsentdeckung vorwiegend im Bereich der Esoterik abgehandelt, die einen schillernden Ruf hat – das wird sich mit Sicherheit in Zukunft entscheidend ändern, denn die Transzendenz wird wieder Einzug in unser Leben halten. Der Mensch wird sich wieder auf die Schöpfung ausrichten, so wie es sein soll, so wie er angelegt ist, und die Naturwissenschaften müssen sich mit ihrem pragmatischen Stellenwert bescheiden – heute bilden sie noch den Abgrund, über den hinweg die EPR-Brücke einen Weg weist, und das Ziel erscheint bereits in der Ferne. Die intellektuelle Transition des Universums in das große Ganze, in das Reich der Zeit, das sich heute erst quantenkosmologisch, das heißt wissenschaftlich verbrämt konturiert. Am Ende eröffnen sich für den Menschen, also auch für mich, wunderbare Aussichten, sie klingen schon fast verwegen: Wir alle haben gleichermaßen göttliche Eigenschaften, wir wurden mit ihnen geboren, wir müssen uns nicht einmal persönlich um sie bemühen – Gott wäre dem Menschen sicher, auf jeden Fall.