Stiller Ozean, Pazifik, spätabends vor der südchilenischen Küste. Es wird nicht ganz dunkel, ein Lichtstreifen über dem Horizont belauert die Nacht. Endlich kein Mensch mehr auf dem Achterdeck, eine Erlösung.
Fast kein Mensch, hinter mir die Stimme von Mike: „One drink, Sir?“
Mike kommt von den Philippinen, aus Mindanao. Er ist immer da, er braucht keinen Schlaf, er schläft mit offenen Augen im Stehen. Sein ‚Sir’ klingt nicht routiniert, das ist das Tückische. Eigentlich möchte ich nicht geadelt werden, ich fürchte mich vor der Weltläufigkeit, die unter den Passagieren auf dem Kreuzfahrtschiff grassiert.
„Gin-Tonic, Sir?“ Schweigen heißt Zustimmung, Mike bringt mir den Drink, für sechs Dollar plus Steuer.

„Hier hat man seine Ruhe.“ Der Deutsche hat sich schon hingesetzt. Ich starre hartnäckig auf den Lichtstreifen in der Ferne.
„Eine wunderbare Nacht.“
„Ja.“ Zu kurzangebunden, ich bin unhöflich. „Ja… schön warm.“
„Ich hab’ nichts anzuziehen, wissen Sie.“
„Äh… wieso?“, frage ich. Mir bleibt kein Ausweg, ich muss ihn das fragen.
Mit einem Seitenblick prüfe ich, ob der Mann nackt ist – nein, er trägt ein weißes T-Shirt mit Aufnäher und eine weiße Bügelfaltenhose.
„Mein Koffer ist weg.“

Es nimmt kein Ende: Sein Koffer könne irgendwo, in New York, in Neu-Dehli oder in Daressalam gelandet sein, sagt er – da wäre er zwar schon überall gewesen, aber das nütze ja auch nichts, sagt er und dann: „Das muss man sich mal vorstellen!“
Ich versuche es. Wo liegt noch Daressalam, ach ja, in Afrika, Sahel-Zone. Die Leute sind arm dort, ich glaube, es gibt Kämpfe wegen… vielleicht Stammesfehden oder wegen des Islam. Überall Kämpfe auf der Welt, Kämpfe in Daressalam, während ich unter dem Sternenhimmel des Pazifik einen Drink nehme. Ich nehme einen Drink, ich nehme ihn – einen Drink zu trinken, das geht nicht. Den Mann stört, dass meine Aufmerksamkeit nachlässt, sein Blick wird streng. Er schwadroniert weiter, er wird die Fluglinie verklagen, er kann nicht mal am Captains-Dinner teilnehmen, weil der Smoking weg ist. Sein Blick wird noch strenger – die Welt hat sich gegen ihn verschworen, um ihm den Urlaub zu verderben.

„Sowas nennt sich nun Business-Class! Und die aus der Holzklasse haben alle ihre Koffer.“
Holzklasse also – ich wohne unten im Schiff in der billigsten Innenkabine. Wahrscheinlich hat er eine Suite mit Balkon.
Keine Flucht mehr möglich, der Mann hat per Victory-Handzeichen zwei Drinks geordert. Mike ist sofort hinter den Tresen gesprintet, wo ich die Eiswürfel klacken höre.
„Your drink, Sir!“ Mike meint mich. Ich weiß, er will mir sein sardonisches Lächeln verpassen. Da – und er kneift dabei auch noch ein Auge zu.

„Merken sie, wie still es ist?“
Ich horche… tatsächlich.
„Ist die Maschine abgestellt?“ Meine Frage bringt den Mann aus der Fassung.
„Ha, ha, ha, ha, ha!“ Er brüllt vor Lachen, verschluckt sich, prustet mich an. Ich wische mir unauffällig am Hemd die Hände ab. Mike aus Mindanao tänzelt nervös zwischen den leeren Tischen, weil er um die Nachtruhe der Passagiere fürchtet.
„Schleichfahrt!“, krächzt der Mann, wartet einige Sekunden, bis er wieder normal sprechen kann. „Sonst kommen wir zu früh in Puerto Montt an, kostet zusätzliche Liegegebühren. Geht immer um Geld, wissen Sie.“
„Ach so.“
„Sie sind ein feiner Kerl! Kommen Sie, heute Nacht trinken wir einen, Sie sind eingeladen.“
Ich bin ein feiner Kerl? Ist doch egal, wie er darauf kommt. Der hat bloß keine Lust, alleine zu saufen. Der südliche Sternenhimmel, wie exotisch – schlafen könnte ich sowieso nicht, ich würde mich nur ärgern.