Im Wettstreit mit den Salzkartoffeln haben die Spaghetti den Sieg davongetragen, obwohl sie ähnlich nichtssagend wie die Erdäpfel schmecken und obwohl Spaghetti sinnlos überstreckte, paradoxe Lebensmittel sind, die beim Essen Frustrationen auslösen. Warum also nicht gleich kurze Spaghetti herstellen? Normale Spaghetti sind nicht nur zu dünn, sondern zu lang, vorprogrammierte Anschläge auf das ästhetische Empfinden bei Tisch. Wer beobachtet schon gern Damen, die unauffällig einen rötlich-weißen Bandwurm aus dem Ausschnitt ziehen? – wer sieht schon gern klebrige Fäden aus Mundwinkeln heraushängen? – wem gefällt es, in Mundhöhlen zu äugen, wo Zähne und Zunge versuchen, das Spaghetti-Knäuel in einen schluckfertigen Bissen zu verwandeln? Trotzdem werden alle Bemühungen scheitern, die Spaghetti zu kürzen – niemand will es, und niemand weiß, warum er es nicht will.

Ich begegnete den Spaghetti schon früh im Leben, als sie in der Nachkriegszeit noch ein Schattendasein führten. Mit der Ankunft der Gastarbeiter bekamen sie einen zweifelhaften Bekanntheitsgrad, weil man die italienischen Arbeiter in Deutschland unter vorgehaltener Hand als ‚Spaghetti-Fresser’ beschimpfte. Glücklicherweise sind diese Zeiten vorbei.

Im Film stieß ich zuerst auf Spaghetti in Marco Ferreris ‚Das große Fressen’, dann bei Jack Lemmon, der sie in ‚Das Appartement’ auf einem Tennisschläger abtropfen ließ, später als Mafioso-Leibgericht in ‚Der Pate’ – am einprägsamsten in Loriots Sketch ‚Die Nudel’.

Es gibt viele andere Nudelsorten: Fettucine, Farfalle, Penne rigate und so weiter – doch keine von ihnen brachte es zu Weltruhm. Ich meine weder das Spaghetti-Eis noch die Spaghetti-Träger, die übrigens nicht beim Bau, sondern in der Mode anzutreffen sind. Nein, ganz unerwartet sind Spaghetti sogar zu einer Gottheit avanciert – in Form des ‚Fliegenden Spaghetti-Monsters’. Der amerikanische Religionsgründer und Pysiker Bobby Henderson begreift seinen Spaghetti-Gott als provokanten ‚Alternativ-Glauben’ zu den amerikanischen evangelikalen Kreationisten, die an die Stelle der Evolution ein göttliches ‚Intelligent Design’ setzen wollen. In den Vereinigten Staaten haben die Kreationisten enormen Zulauf, auch George W. Bush zählt zu ihren Anhängern – offenbar war hier der Wunsch Vater des Gedankens.

Die Anhänger des Nudel-Gottes nennen sich selbst ‚Pastafari’. Man hat eine Viertelmillion Dollar ausgelobt für denjenigen, der nachweisen kann, dass Jesus Christus nicht der Sohn des ‚Fliegenden Spaghetti-Monsters’ ist. Weil das bisher keinem gelungen ist, beantragten die Pastafari bei den Behörden von Kansas, ihre Religion in den Schulen ebenso zu lehren wie den Kreationismus. Über eine Antwort ist mir nichts bekannt.

Wer den hohen Stellenwert der Spaghetti trotzdem nicht anerkennen mag, dem sei gesagt, dass sie sogar in die theoretische Physik Einzug gehalten haben: Denn am Ereignishorizont eines Schwarzen Loches wird die Anziehungskraft gigantisch. Jemand der hineinfällt, wird der Länge nach auseinandergezogen – diesen Effekt nennt man Spaghettisierung. Auch wenn diese dramatische Ausdünnung genauso irreal erscheint wie das ‚Fliegende Spaghetti-Monster’ als moderner Gott, so ist jedenfalls klar, dass die Spaghetti nicht nur aller Munde sind, sondern auch in vielen großen Köpfen herumnudeln.