Herr Acht steht an diesem Morgen früh auf. Er geht gleich ins Bad, wo ein neuer Rasierer im Spiegelschrank liegt. Die Verpackung ist noch heil, eine elegante Verpackung. Wäre Herr Acht nicht so verschlafen, könnte er sich gleich daran machen, sie zu öffnen. Er benutzt die Toilette. Er drückt die Spültaste und wirft einen prüfenden Blick hinter sich. Angenehm, dass in der Packung ein Ständer enthalten ist, so kommt der Rasierer nicht einfach auf der Ablage zu liegen. Bevor er in die Duschkabine tritt, putzt sich Herr Acht seine guten Zähne. Billig war der neue Rasierer nicht, aber auch nicht zu teuer: Alles hat seinen Preis. Ein Kollege hat ihm zu dem Kauf geraten. Während einer Unterhaltung kamen sie zufällig darauf, zufällig – Herr Acht war nicht darauf eingestellt, dass man sich über Rasur unterhalten würde.
Zum Frühstück isst Herr Acht keine Brötchen. Er müsste sie extra holen, und sie bereiten ihm Aufstoßen. Manchmal erstaunt es ihn, dass er nicht schon früher das grobe Vollkornbrot vorgezogen hat, denn es ist sehr schmackhaft. Herr Acht besteht auf Butter, ohne sich darin beirren zu lassen. Er hat seinen eigenen Willen. Das Rasierergebnis ist überzeugend: In einer sanften, in einer behutsamen Bewegung des Zeige- und des Mittelfingers seiner rechten Hand erfühlt er seine Gesichtshaut. Er fühlt sein Gesicht, es ist glatt. Wenn die Butter zu dick aufgetragen wird, schmeckt man das Brot nicht mehr richtig. Vollkornbrot enthält Ballaststoffe, die den Darm reizen. Die Darmzotten werden angeregt. Kaffee: Viele Menschen trinken nach dem Aufstehen Kaffee, wie auch er. Herr Acht spült nachdenklich den Becher ab.
Er findet einen Platz, einen am Fenster. Die Vorstadt zieht vorbei, Häuser, Häuser, Strassen und Ampeln mit Farben, die wechseln. Herr Acht sieht sie alle, bis auf die Menschen. Sie sind zu klein. In einer Station weiter ausserhalb zuzusteigen, hat Vorteile. Der stahlblaue Zug bremst vor einer langen Reihe von Personen, die nicht alle einen Platz finden werden. Einige Männer sind nachlässig rasiert, dabei hätten auch sie gern einen Sitzplatz. Doch es ist nicht mehr so weit bis zum Ziel. Herr Acht stellt sich vor, dass mehr Züge fahren müssten.
In dem hellen Bahnhofsgebäude umarmt Herr Acht eine junge Frau, deren Duft ihm gefällt. Sie sind zusammen: Es ist Liebe. Wie er sie zart hinter ihrem Ohr krault, wie er sein Gesicht gegen ihr lebendiges Haar drängt, spürt er seine Wangenhaut. Makellos – doch die neuen Klingen sind teurer als die alten, von denen noch zwei übrig sind. Vielleicht kann er sich mit den neuen häufiger rasieren, dann wäre es in Ordnung. Beide denken an Heirat. Der Gedanke daran macht Herrn Acht glücklich. Es gibt ihm Zuversicht, dass die schöne Frau, mit der er seit längerem bekannt ist, in dem lichtdurchfluteten Bahnhof jeden Morgen auf ihn wartet. Fünf Tage in der Woche, acht Minuten lang, erwartet sie den stahlblauen Zug, der ihn zu ihr bringt. Sein Zug kommt zwei nach an und ihrer sechs vor. Wahrscheinlich denkt sie in diesen acht Minuten an ihn, nicht immer, weil man auch andere Dinge im Kopf hat. Einmal wird Herr Acht sie nach ihren Gedanken fragen.
Auf dem Marktplatz trennen sich ihre Wege. Ihn begrenzt eine Mischung aus alten und neuen Gebäuden, ein interessantes Miteinander. Herr Acht mag es, wenn Tradition und Moderne aufeinandertreffen, trotzdem würde er nicht so weit gehen, zusätzlich einen elektrischen Rasierer anzuschaffen. Immer gehen sie beide noch in die Mitte des Platzes zu dem Brunnen, um sich dort einen Abschiedskuss zu geben. Wenn er flüchtig ausfällt, gibt es ihm jedes Mal einen kleinen Stich. Heute ist es ein inniger Kuss. Auf dem Weg bis hierher hat sie vieles erzählt, munter, ja ausgelassen. Es ging um einen Sport, den sie erst seit kurzem betreibt. Nun erwägt er, es ihr gleichzutun. Für Herrn Acht wäre Ausgleichssport genau das Richtige.
Der nette Kollege hat sich danach erkundigt, ob er mit dem neuen Rasierapparat zufrieden sei. Herr Acht ist gern auf diese Frage eingegangen, weil es an der Rasur nichts auszusetzen gab. Dann muss er sich beeilen, weil nicht zu spät in seiner Abteilung anzukommen will. Ein Blick auf die Uhr zeigt ihm, dass es bereits sieben Minuten vor Neun ist. Als er die Tür öffnet, sind die anderen bereits eingetroffen, ein Umstand, der auf das Gespräch im Flur zurückzuführen ist. Die Arbeit kann beginnen. Ein harter Tag wird das wieder werden. Herr Acht greift nach einem Vorgang.
Das Kantinenessen ist besser als sein Ruf. Es kommt auf den Betrieb an und auf den Koch. Zwischen drei Gerichten wählen zu können, kommt Herrn Acht entgegen, umso mehr als der Speiseplan immer eine Woche vorher ausliegt. Wenn der Koch auf Urlaub ist, geht er hin und wieder auswärts essen. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, doch Tortellini mag er. In dem kleinen Lokal an der Ecke, nicht weit entfernt, gibt es gute Tortellini, gar nicht einmal teuer. Aber der Koch ist gerade erst aus den Ferien zurück, eine Woche Ibiza. Neuerdings trägt er einen Drei-Tage-Bart. Dann rasiert er sich wieder, in einem beständigen Rhythmus. Es ist natürlich seine eigene Entscheidung. Besonders am zweiten Tag wirkt er ausgesprochen unrasiert, heute. Herr Acht hat keinen Hunger mehr.
Der Kollege, der ihm gegenüber sitzt, ist symphatisch, außerdem neigt er zu Witzen – ständig kennt er neue. Ob er eine Magenverstimmung habe, fragt er Herrn Acht später, weil er am Mittag sein Putenbruststeak mit exotischen Gemüsen nicht aufgegessen habe. Das sei doch eines seiner Leibgerichte, und er wäre auch häufiger als gewöhnlich zur Toilette gegangen. Die Anteilnahme des Kollegen ist ehrlich gemeint, trotzdem hat sie etwas Anzügliches, ganz davon abgesehen, dass seine Witze nicht gerade geschmackvoll sind. Herr Acht hat nichts mit dem Magen, mit Sicherheit nicht. Er muss es schließlich besser wissen. Nicht hungrig zu sein, kann vorkommen. Die Toilette hat er aus einem bestimmten Grund öfter aufgesucht, es war der bläuliche Schimmer an seinem Kinn, an seinem Hals, der ihn dazu veranlasst hat. Ein bläulicher Schimmer, zweifellos, Unmengen winziger, harter Stoppeln. Normalerweise wären sie frühestens am Abend zu erkennen gewesen. Herr Acht schaut auf die Uhr.
Die Vorstadt zieht vorbei. Herr Acht hat keinen Sitzplatz bekommen, alle Fahrgäste drängen sich dicht aneinander. Bestimmt könnte man um diese Tageszeit mehr Züge einsetzen. So sehr ist er in seinen Gedanken, dass er fast vergessen hätte, an seiner Station auszusteigen. Ausgerechnet heute Abend, wie aus heiterem Himmel, hat sie einen Hochzeitstermin vorgeschlagen – im Bahnhof, wo bereits die Beleuchtung eingeschaltet war. Er zieht natürliches Licht vor. Sie sollten besser am nächsten Tag darüber sprechen, hat er vorgeschlagen und sie schnell umarmt. Das Kinn kratzt. Nur noch wenige Schritte, dann wird er vor der Haustür stehen. Herr Acht hat seine Schlüssel parat.
Im achten Stock zu wohnen, ist ein lustiger Zufall. Er empfindet es jedenfalls so, und was gehen ihn schon die anderen Leute an. Die anderen Leute sollen machen, was sie wollen – Herrn Acht schert es nicht. Aus den Vorabendprogrammen im Fernsehen, aus diesen vielen Programmen, hat er nichts herausgefunden, was ihm zugesagt hätte. Das Fernsehen wird immer schlechter. Als er vorhin im Bad gewesen ist, hat er den neuen Rasierapparat unberührt gelassen. Er hätte sich an diesem Abend noch einmal rasieren können, obwohl es lange nicht vorgekommen ist, dass er eine erneute Rasur am selben Tag für notwendig hielt. Zuletzt war es anlässlich der Hochzeit dieses Kollegen mit seinen unanständigen Witzen, der ihm seit Jahren gegenübersitzt. Herr Acht verlässt das Wohnzimmer.
Nach vier Minuten geht die Treppenhausbeleuchtung wieder aus – viel zu kurz. Manche Leute benutzen nur ungern den Fahrstuhl, selbst dann nicht, wenn sie ziemlich weit oben wohnen. Für jemanden, der zu Fuß die Treppe hochgeht, für jemanden, der ganz nach oben muss, wäre die doppelte Zeit angebracht. Es kann nicht sein, dass man unbedacht an allen Enden spart. Das Treppenhaus ist leer, Herr Acht sieht keinen Menschen. Der neue Rasierapparat dreht sich langsam zwischen Zeigefinger und Daumen. Widerlich, dass der Handlauf des Geländers mit Kunstoff überzogen ist. Es widert ihn an. Gleich fangen die Hände an zu schwitzen, wenn man sich aufstützt, kein schönes Gefühl, bestimmt nicht. Durch die offene Wohnungstür hört er die Erkennungsmelodie der Tagesschau. Es ist zwanzig Uhr. Herr Acht lächelt noch.
Es ist auch wert, die totale Ereignislosigkeit im Tagesablauf eines Menschen zu beschreiben.
LikeLike
Eine Art Stillleben wäre das in der Malerei. Muss man erst mal können.
LikeLike