Toller

Vom Elend der Emigration

Es zieht mich wieder einmal zu den zwanziger Jahren hin, zu den „goldenen“, den „glücklichen“ – ein mir schon bekanntes Phänomen, eine sporadische Faszination, sie flammt glücklicherweise nur gelegentlich auf. Denn tatsächlich waren die zwanziger Jahre für die meisten Zeitgenossen weder golden noch glücklich, eher im Gegenteil. Außerdem hat es etwas mit Aufgabe zu tun, wenn man ständig zurückschaut: Mit zu häufigen Blicken auf die Vergangenheit kehrt man sich unbewusst von der Gegenwart ab, er ist eine Flucht, eine Art Kapitulation. Trotzdem… wie muss es wohl damals zugegangen sein nach dem verlorenen Krieg, während der schwachen Weimarer Republik, in dem materiellen Elend, zugleich aber in einer Zeit überschwänglich sprudelnder Lebenslust und kultureller Vielfalt? Wie fühlten sich die Menschen? Wahrscheinlich nicht entfernt so gut wie man es sich ausmalt. Im Jahr 1923 erreichte die Inflation ihren Höhepunkt. Eine Eintrittskarte an der Abendkasse eines Theaters kostete 250 Millionen Mark, für ein Paar also eine halbe Milliarde. Es war auch das Jahr des Hitler-Putsches, der zukünftige Führer wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt, kam schon im Dezember 1924 wieder frei und hatte im Gefängnis wie ein Fürst gelebt.

Es war die Zeit zwischen den größten Kriegen, die jemals auf der Welt geführt wurden, das gilt bis heute. In den zwanziger Jahren hatte sich die Gesellschaft aufgespalten, sie war desaggregiert in unterschiedliche Lager und Interessengruppen – da waren die Nationalisten, die Erzkonservativen, der Adel, die Horden tief empörter Militaristen, sie verharrten bleiern im wilhelminisch-kaiserlichen Denken, sie sannen auf Rache für den verlorenen Krieg, die Schande von Versailles bildete das rote Tuch für die Kriegstreiber in die nächste Katastrophe, die allerdings noch niemand voraussah – dann waren da die gesellschaftlichen Visionäre, die Sozialreformer, die Revolutionäre, darunter die eifernden Bolschewiken, deren Elan im Paukenschlag der russischen Oktoberrevolution von 1917 vibrierte – dann waren da die Arbeiter, die Bauern und die apolitische bürgerliche Mitte, sie hatten vor allem nagende existenzielle Probleme, sie mussten irgendwie die Kriegsfolgen bewältigen, sich mühsam wieder einrichten, wieder aufbauen, und was am schwersten war, wieder eine Arbeit finden im wirtschaftlich darbenden Deutschland. Doch gleichzeitig bildete sich eine schäumende, fast überquellende Lebensfreude aus, es war die kompensatorische Befreiung aus den Schützengräben, besonders in Berlin, wo das Treiben im Nachhall der Kriegsgräuel fast grotesk anmutete, und in diese Ausgelassenheit mischte sich unauffällig eine kleine, aber exotische Bohème, die vorwiegend aus Literaten und Malern bestand.

Zubilligen muss man dieser Bohème, dass sie vor allem literarisch gesehen eine der produktivsten Phasen in Deutschland einleitete, sie setzte den frühen Expressionismus vor dem Ersten Weltkrieg zwar fort, aber sie schuf dabei neue Ausdrucksformen, wie etwa den Dada. Die Stimmung vor dem Krieg kann man bedingt mit der Periode des Sturm und Drang im 18. Jahrhundert vergleichen, allerdings unter ganz anderen Vorzeichen, die im Experimentellen, im kulturellen Aufruhr den Abstand zum Bürgerlichen markierten, wogegen sich der Sturm und Drang der berauschenden Selbstverwirklichung verschrieben hatte. Als Kriegsfolge wurde der literarische Expressionismus düsterer, er nahm den späteren Existenzialismus auf eine gewisse Art ahnungsvoll vorweg. Die deutsche Literatur richtete sich anders aus – verschüttete Sehnsüchte, Entfremdung und Betäubung waren die Motive, nicht unbedingt bei Thomas Mann oder Robert Musil, aber bei Hermann Hesse, Bertold Brecht, Franz Kafka, Erich Maria Remarque, Gottfried Benn oder Walter Hasenclever.

Mit der Machtergreifung im Jahr 1933 senkte sich innerhalb weniger Jahre der Sargdeckel über das freizügige Denken, über die unbeschwerte Avantgarde der zwanziger Jahre: Es war vorbei – was einige nur als vorübergehenden Spuk eingeschätzt hatten, wurde immer mehr bösartige Realität, unausweichliche Realität. Bei vielen Intellektuellen dauerte es eine Zeitlang, bis sie den Fluch des Nationalsozialismus begriffen, sie wollten nicht wahrhaben, dass ihnen der geisteskranke Adolf Hitler, vornehmlich sein dämonischer Adlatus Joseph Goebbels mit seinem SA-Pöbel brutal die Existenz unter den Beinen wegzuziehen drohte, ja sogar ihr Leben unmittelbar bedrohte.

Dann wurden Flucht und Emigration zu den bestimmenden Themen, Endzeitstimmung breitete sich aus, nicht allein unter den Juden – die Liste der emigrierten deutschen Kulturschaffenden ist lang, abgesehen von den vielen Künstlern, die zwar nicht verhaftet wurden, aber in der Inneren Emigration vor sich hin vegetierten, wie etwa Oskar Loerke, Peter Huchel oder Günter Eich. Nur wenige der oft abenteuerlichen, doch meist tief deprimierenden Lebensgeschichten sind aufgeschrieben, nicht die von Joseph Roth, der sich 1939 im Pariser Exil aus purer Verzweiflung zu Tode soff, nicht die des heute gänzlich vergessenen Walther Kabel, der mindestens ein zweiter Karl May war, einer der meistgelesenen deutschen Volksschriftsteller, und der sich schon im Jahr 1935 in Klein-Machnow bei Berlin die Pistole an den Kopf setzte – nicht, jedenfalls nicht ausführlich aufgeschrieben sind auch die Biographien von Max Hermann Neisse und von Ernst Toller.

Ernst Toller (1893-1939) war ein toller Typ, der mit Leichtigkeit andere Menschen für sich einnehmen konnte, er war lebenslustig, humorvoll, doch sehr empfindsam – über seine schriftstellerischen Qualitäten und seine Fähigkeiten als Dramatiker ist man sich bis heute nicht einig, für mich sind sie jedoch mehr als ansehnlich. Toller war jüdischer Herkunft, er zog voller Begeisterung in den Ersten Weltkrieg, der ihn aber nach zwei Jahren seelisch derartig zermürbt hatte, dass er 1916 einen Totalzusammenbruch erlitt. Nach dem Krieg wurde er Vorsitzender der Münchner Soldatenräte und Kommandant der bayrischen „Roten Armee“, Goebbels erklärte ihn, wie viele andere Künstler auch, zeitweilig zum Staatsfeind Nummer eins, er erhielt „nur“ fünf Jahre Zuchthaus, weil er heimliche Fürsprecher wie Max Weber hatte, er wurde zum engagierten Kämpfer gegen die Nazis. Schließlich ging er nach Amerika, dort wurde er sogar Präsident Roosevelt vorgestellt, was nichts daran änderte, dass sein Lebensmut zunehmend schwand, Ernst Toller erhängte sich 1939 in New York mit dem Gürtel seines Bademantels – hier drei Gedichte von ihm und ein Auszug aus seinem bekanntesten Werk „Eine Jugend in Deutschland“:

Spaziergang der Sträflinge

(Dem Andenken des erschoßnen Kameraden
Wohlmuth, München)

Sie schleppen ihre Zellen mit in stumpfen Blicken
Und stolpern, lichtentwöhnte Pilger, im Quadrat,
Proleten, die im Steinverließ ersticken,
Proleten, die ein Paragraph zertrat.

Im Eck die Wärter trag und tückisch lauern.
Von Sträuchern, halb verkümmert, rinnt ein trübes Licht
Und kriecht empor am Panzer starrer Mauern,
Betastet schlaffe Körper und zerbricht.

Vorm Tore starb der Stadt Gewimmel.
»Am Unrathaufen wird im Frühling Grünes sprießen . . .«
Denkt Einer, endet mühsam die gewohnte Runde,

Verweilt und blinzelt matt zum Himmel:
Er öffnet sich wie bläulich rote Wunde,
Die brennt und brennt und will sich nimmer schließen.

von Ernst Toller

Gefangene Mädchen

Wie kleine arme Dirnen an belebten Straßenecken
Sich schüchtern fast und wieder roh bewegen,
Im Schatten der Laternen sich erst dreister regen
Und den zerfransten Rock kokett verstecken . . .

Wie Waisenkinder, die geführt auf Promenaden,
Je zwei und zwei in allzu kurzen grauen
Verschoßnen Kleidern sehr verschämt zu Boden schauen
Und Stiche fühlen in den nackten Waden . . .

So schlürfen sie umstellt von hagren Wärterinnen,
Die warmen Hüften wiegend auf asphaltnen Kreisen,
Sie streichen heimlich mit Gebärden, leisen,

Das härne Kleid, als strichen sie plissiertes Linnen,
Und wie sich in gewölbten Händen Brüste runden,
Befällt sie Grauen ob der Last der leeren Stunden . . .

von Ernst Toller


Die Mauer der Erschossenen

(Pietá – Stadelheim 1919)

Wie aus dem Leib des heiligen Sebastian,
Dem tausend Pfeile tausend Wunden schlugen,
So Wunden brachen aus Gestein und Fugen,
Seit in den Sand ihr Blut verlöschend rann.

Vor Schrei und Aufschrei krümmte sich die Wand,
Vor Weibern, die mit angeschoßnen Knien »Herzschuß!« flehten,
Vor Männern, die getroffen sich wie Kreisel drehten,
Vor Knaben, die um Gnade weinten mit zerbrochner Hand.

Da solches Morden raste durch die Tage,
Da Erde wurde zu bespienem Schoß,
Da trunkenes Gelächter kollerte von Bajonetten,

Da Gott sich blendete und arm ward, nackt und bloß,
Sah man die schmerzensreiche Wand in großer Klage
Die toten Menschenleiber an ihr steinern Herze betten.

von Ernst Toller

Eine Jugend in Deutschland – Auszug

Die Tür einer Kirche steht offen. Ich gehe hinein, grau fällt der Tag durch die zerspellten Scheiben, meine schweren Stiefel hallen auf den Fliesen des steinernen Bodens. Vor dem Altar liegt ein Soldat. Wie ich mich über ihn beuge, sehe ich, daß er tot ist. Der Kopf ist in der Mitte aufgebrochen, wie riesige Eischalen klaffen die Hälften auseinander, das Gehirn quillt breiig darüber.

Wir schlafen aneinandergekauert in schlammigen Unterständen, von den Wänden rinnt Wasser, an unserem Brot nagen die Ratten, an unserem Schlaf der Krieg und die Heimat. Heute sind wir zehn Mann, morgen acht, zwei haben Granaten zerfleischt. Wir begraben unsere Toten nicht. Wir setzen sie in die kleinen Nischen, die in die Grabenwand geschachtet sind für uns zum Ausruhen. Wenn ich geduckt durch den Graben schleiche, weiß ich nicht, ob ich an einem Toten oder einem Lebenden vorübergehe. Hier haben Leichen und Lebende die gleichen graugelben Gesichter.
Nicht immer müssen wir nach einem Platz für die Toten suchen.
Oft werden ihre Körper so zerrissen, daß nur ein Fetzen Fleisch, an einem Baumstumpf klebend, an sie erinnert.
Oder sie verröcheln im Drahtverhau zwischen den Gräben.
Oder wenn Minen ein Grabenstück in die Luft sprengen, wird die Erde selbst zum Totengräber.
Dreihundert Meter rechts von uns, im Hexenkessel, liegt an einem Blockhaus, das zwanzigmal Besitz der Deutschen, zwanzigmal Besitz der Franzosen war, ein Haufen Leichen. Die Körper sind ineinanderverschlungen wie in großer Umarmung. Ein furchtbarer Gestank ging davon aus, jetzt bedeckt alle die gleiche dünne Decke weißen Ätzkalks.
….
Eines Nachts hören wir Schreie, so, als wenn ein Mensch furchtbare Schmerzen leidet, dann ist es still. ›Wird einer zu Tode getroffen sein‹, denken wir. Nach einer Stunde kommen die Schreie wieder. Nun hört es nicht mehr auf. Diese Nacht nicht. Die nächste Nacht nicht. Nackt und wortlos wimmert der Schrei, wir wissen nicht, dringt er aus der Kehle eines Deutschen oder eines Franzosen. Der Schrei lebt für sich, er klagt die Erde an und den Himmel. Wir pressen die Fäuste an unsere Ohren, um das Gewimmer nicht zu hören, es hilft nichts, der Schrei dreht sich wie ein Kreisel in unsern Köpfen, er zerdehnt die Minuten zu Stunden, die Stunden zu Jahren. Wir vertrocknen und vergreisen zwischen Ton und Ton.
Wir haben erfahren, wer schreit, einer der Unsern, er hängt im Drahtverhau, niemand kann ihn retten, zwei haben’s versucht, sie wurden erschossen, irgendeiner Mutter Sohn wehrt sich verzweifelt gegen seinen Tod, zum Teufel, er macht so viel Aufhebens davon, wir werden verrückt, wenn er noch lange schreit. Der Tod stopft ihm den Mund am dritten Tag.

Ich stehe im Graben, mit dem Pickel schürfe ich die Erde. Die stählerne Spitze bleibt hängen, ich zerre und ziehe sie mit einem Ruck heraus. An ihr hängt ein schleimiger Knoten, und wie ich mich beuge, sehe ich, es ist menschliches Gedärm. Ein toter Mensch ist hier begraben. Ein – toter – Mensch.
Warum halte ich inne? Warum zwingen diese Worte zum Verweilen, warum pressen sie mein Hirn mit der Gewalt eines Schraubstocks, warum schnüren sie mir die Kehle zu und das Herz ab? Drei Worte wie irgendwelche drei andern.
Ein toter Mensch – ich will endlich diese drei Worte vergessen, was ist nur an diesen Worten, warum übermächtigen und überwältigen sie mich?
Ein – toter – Mensch –
Und plötzlich, als teile sich die Finsternis vom Licht, das Wort vom Sinn, erfasse ich die einfache Wahrheit Mensch, die ich vergessen hatte, die vergraben und verschüttet lag, die Gemeinsamkeit, das Eine und Einende.
Ein toter Mensch.
Nicht: ein toter Franzose.
Nicht: ein toter Deutscher.
Ein toter Mensch.
Alle diese Toten sind Menschen, alle diese Toten haben geatmet wie ich, alle diese Toten hatten einen Vater, eine Mutter, Frauen, die sie liebten, ein Stück Land, in dem sie wurzelten, Gesichter, die von ihren Freuden und ihren Leiden sagten, Augen, die das Licht sahen und den Himmel. In dieser Stunde weiß ich, daß ich blind war, weil ich mich geblendet hatte, in dieser Stunde weiß ich endlich, daß alle diese Toten, Franzosen und Deutsche, Brüder waren und daß ich ihr Bruder bin. – Nun kann ich an keinem Toten mehr vorbeigehen, ohne innezuhalten, sein Antlitz zu betrachten, dessen erdige Patina, eine undurchdringliche Mauer, ihn der vertrauten Zeit entrückt; wer warst du, frage ich, von wo kommst du, wer trauert um dich? Niemals frage ich: Warum mußtest du sterben? Niemals: wer ist schuld?

von Ernst Toller

4 Gedanken zu “Toller”

  1. Deine Ausflüge in die Literaturgeschichte sind sehr eigenständig, wissenswert und in keinem Schulbuch zu finden.

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  2. Renawers sagte:

    Ein fast vergesssener aber bemerkenswerter Mensch ist Toller.

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